Klaus ließ das Blatt sinken. »Wäre nichts für mich, so bald aufzustehen. Dieser Albrecht muss noch sehr müde gewesen sein, dass er den Stein nicht gesehen hat.«
Er suchte in den Papieren nach der Adresse und der Telefonnummer. Er ließ es etliche Male läuten, niemand hob ab. Er machte sich geistig eine Notiz, dass er nach diesem Herrn Albrecht noch recherchieren und ihn noch einmal anrufen wollte. Dann las er die Ausführungen des Protokolls weiter.
»Es war eine junge Frau, die er fand. Zugedeckt mit Blattwerk. Sie trug eine Unterhose, ansonsten war sie nackt. Sie war an Händen und Füßen mit einer Strumpfhose verschnürt.«
»Strumpfhose, verschnürt«, sagte Klaus laut. »Fixiert, gebunden, was fällt mir dazu ein?« Bevor er zum Telefonhörer griff, las er den letzten Satz der Niederschrift. Nachdem das Blattwerk weggeräumt worden war, fand man eine Zigarette auf der Brust der Toten.
Klaus wählte eine Nummer. Sofort wurde abgenommen.
»Himmel, muss dir langweilig sein, wenn du schon abnimmst, während es das erste Mal klingelt. Oder hast du Röntgenaugen?«
»Ich habe es doch auf dem Display gesehen!«
»Ich habe einen neuen Witz, Chefin, damit du wenigstens einmal am Tag was zu lachen hast.«
»Das wird wieder was sein«, hörte Klaus aus dem Hörer. Irrte er sich, oder klang Belu verschnupft?
»Also hör zu: Was sagt ein Mann, wenn er bis zum Bauchnabel im Wasser steht? Na, was meinst du?«
Man hörte ein lang gezogenes Schnaufen. Klaus konnte sich lebhaft vorstellen, wie Belu nun die Augenbrauen nach oben zog.
»Das geht über meinen Verstand. Gut, gell?«
Ein paar Sekunden war es still. Dann prustete Belu los, lachte schallend. »Das passt wie die Faust aufs Gretchen.«
»Wer zweideutig denkt, hat eindeutig mehr Spaß«, konterte Klaus, grinste und rieb sich über die Stoppeln an seinem Kinn. Wenn Cora nichts dagegen hatte, würde er sich doch einen Dreitagebart stehen lassen. Das kratzte dann sicher nicht mehr.
»Warum ich eigentlich anrufe: Denkst du dasselbe wie ich? Verschnürt, gefesselt, fixiert? Nach was schaut das aus?«
Eine Weile war es still im Hörer, dann kam es wie aus der Pistole geschossen. »Du hast recht, das ist ...«
»... Bondage«, ergänzte Klaus. »Danke, dann weiß ich, was ich als Nächstes tun muss.«
1987
»Hast du verstanden? Das Safeword ist mayday. Und da man bekanntlich mit einem Knebel im Mund nicht rufen kann, klopfst du mit den Zehen zweimal auf den Boden.«
Die Domina strich ihm zärtlich über die Wangen. In der Hand hielt sie eine brennende Kerze, ließ das heiße Wachs über seinen Hals laufen. Wenn der Mann ein Kätzchen gewesen wäre, hätte er zu schnurren begonnen. So stand er einfach nur da in seiner Feinrippunterhose und dem Netzhemd. Schon immer übte es eine Faszination auf ihn aus, wenn er gefesselt wurde. Wenn sie als Kinder Räuber und Indianer gespielt hatten, hatte er sich fangen und an Händen und Beinen fesseln lassen. Aus Jux waren sie als Teenager in Sexfilme gegangen. Die Szenen, in denen jemand mit Seilen verknotet oder fixiert wurde, erregten ihn besonders. Am Anfang ihrer jungen Liebe hatte sich seine Frau ja noch darauf eingelassen. Sie war unerfahren und dumm, aber neugierig. Mit zunehmenden Ehejahren lehnte sie es allerdings ab, ihm Handschellen anzulegen, geschweige denn, sich selbst festzurren zu lassen. So gönnte er sich – immer öfter – in der Mittagspause den Besuch bei einer Domina. Sie war keine Professionelle, das dachte er zumindest. Schließlich empfing sie ihn in einem Wohnhaus. Gab es ihm doch das Gefühl, sich nicht der käuflichen Liebe hinzugeben.
Wenn seine Sekretärin wüsste, was er sich da so in der Mittagszeit gönnte. Sie profitierte davon, er war dann rundweg ausgeglichen und sah über manchen Fehler hinweg.
»Knie dich nieder!«, befahl die Dame. »Wirds bald!«
Gehorsam kniete er sich hin.
»Wenn du besonders brav bist, Sklave, darfst du mich Monique nennen.« Sie legte ihm ein Hundehalsband um und zog ihn hinter sich her.
»Folge mir.«
Gehorsam ließ er sich in das Zimmer mit dem Andreaskreuz führen. Er liebte Fesselspielchen, die ihn noch mehr aufgeilten, das Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein, allem, was da kommen mochte. Es törnte ihn noch mehr an, wenn er versuchte, sich zu befreien, und es ihm nicht gelang.
»Das wirst du schön bleiben lassen, Sklave«, meinte Madame. »Du kommst frei, wenn ich es sage, verstanden? Verstanden, habe ich gefragt!« Er nickte artig. Ja, so liebte er es. Wirklich zu schade, dass seine Frau so eine hausbackene Gemahlin war und für sie nur Blümchensex infrage kam. Die Domina gab ihm einen Klaps auf die Wangen, das Wachs einer Kerze tropfte auf seinen Körper. Sie nahm eine Peitsche und ließ sie langsam über seinen Rücken gleiten. Mit Blick auf eine Uhr, die leicht versteckt auf einem Kästchen stand, meinte sie: »Das nächste Mal bekommt das Halsband Stacheln.« Dann nahm sie ihm die Fesseln ab, entfernte die Zwicker an den Brustwarzen. »Den Rest kannst du selbst abnehmen. Hier ist ein Tuch für das Wachs.« Er tat, wie ihm geheißen, bedauerte, dass die Zeit schon vorbei war. Jetzt würde er wieder einige Tage warten müssen. Zu oft konnte er sich diese Stunde bei der Dame nicht erlauben. Seine Frau sollte es nicht mitbekommen, wofür er so viel Geld ausgab. Beschwingt ging er ins Büro zurück. Seine Mitarbeiterin wunderte sich schon gar nicht mehr, dass ihr Chef, der in der Früh meist muffelig war, oft nach der Mittagspause völlig entspannt und fröhlich zurück ins Büro kam.
Die Dame im Morgenmantel reichte ihrer Kollegin eine Tasse Tee.
»Da schimpfen sie immer über uns, über das älteste Gewerbe der Welt, und im Grunde genommen sind sie froh, dass es uns gibt.« Sie zog den Gürtel ihres Bademantels enger, fläzte sich auf das kleine Sofa.
»Stimmt, ich habe diese heuchlerische Gesellschaft so was von satt! Der da eben, biederer Ehemann, Abteilungsleiter und dann kommt er in der Mittagspause zu mir.«
»Solange die Kasse stimmt, mache ich fast alles. Ich verkaufe Seifenblasen und ich erfülle Träume. Das, was eigentlich der Job der Ehefrauen wäre.«
»Und da die Frauen es anscheinend nicht können oder wollen, sind wir da. Mit dem Unterschied, dass wir Geld dafür nehmen.«
»Ich kann mir gut vorstellen, dass die Freier sich zu Hause gehen lassen. Am Wochenende ziehen sie wahrscheinlich die Schlafanzughosen noch nicht einmal aus. Mit dem Unterhemd, unrasiert, ungepflegt und schlampig hockt er dann das ganze Wochenende vor der Glotze. Bei uns trauen sie sich nicht, ungewaschen aufzutauchen.«
»Und wenn doch, dann stelle ich ihn unter die Dusche.«
»Hol doch bitte mal den Sekt aus dem Kühlschrank.« Sie stand auf, wäre beinahe über den langen Bademantel gestolpert. Sie öffnete eine Vitrine, holte drei Sektgläser heraus und goss ein.
»Drei Gläser?«
»Ja, Uli kommt nachher noch. Sie hat einen tollen Job aufgetan. Stell dir vor, so ein alter Geschäftsmann hat sie ins Theater eingeladen.«
Die junge Frau lachte, schmunzelte und meinte fröhlich: »Na, ob es beim Theater bleibt? Weißt du was, für meine Gage kaufe ich mir ein paar neue Seidenstrümpfe und den Lippenstift, den ich schon immer haben wollte.« Sie nahm einen großen Schluck, tauschte den Lederrock und den Ketten-BH gegen Stoffhose und Bluse. »Sag ihr einen lieben Gruß. Ich muss los, meine Kleine von meiner Mutter abholen.«
Kommissariat, Büro
Es war still im Büro. Auch wenn Klaus es nicht zugeben wollte, ihm fehlte Belu. Ihm fehlten die Gummibärchen, die Belu so gerne aß, der Duft von Kaffee mit der Prise Zimt. Er stierte vor sich hin, ließ seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Damals, als er noch ganz neu in der Abteilung war, saß er auch alleine im Büro, Zwielicht kroch seinerzeit durch das Zimmer. Die Laternen am Jakobsplatz waren angegangen.
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