»Wir werden sie verstehen«, beruhigte Leila die Mädchen, »und unanständig ist es sicher nicht, sie anzusehen, sonst dürfte sie auch nicht auf der Straße laufen. Übrigens wird auch Marian 27974 kommen, stellt euch das vor!«
»Er kommt?« Sonja zog eine neidische Schnute und tastete nach ihrem Sternschmuck, der nach einem genialen Einfall ihrer Freundin – Arbeiterinnen gab es schon seit mehr als hundert Jahren nicht mehr – die Linie ihres Hinterkopfes auffallend verbreiterte.
Lilith klagte: »Er ist so unliebenswürdig!«
Währenddessen zerbiss Leila ein mit Alkon gefülltes Bonbon von der Gestalt einer Orchideenblüte.
»Marian ist grässlich kultiviert«, sagte sie entrüstet. »Am liebsten möchte er sich und uns alle zu Maschinen machen!«
Lilith seufzte verständnisvoll. Dalila hob lauschend den Kopf, denn sie hörte ein ihr ganz unbegreifliches Trampeln und Klirren auf den bunten Glasfliesen des Vorraumes. Dann stieß sie Leila aufgeregt an: »Ist sie das?«
Diese nickte nur, und erklärte dann flüsternd: »Das Geräusch entsteht, weil sie mit Schilden an den Füßen geht ... tritt. Seht, so. « Sie versuchte durch einige zaghafte Strampelbewegungen ihren Freundinnen diese merkwürdige Tatsache zu erklären. Im Türrahmen erschien wie auf einer Mattscheibe jetzt endlich das Bild der alten Hüttenbewohnerin, die sich mit einer Hand, offenbar verängstigt, an das Gewand eines jungen Mannes klammerte.
»Wer ist das, der mitkommt?«, fragte Sonja.
»Ach, es ist nur Alfred 6720, ich habe ihn darum gebeten, weil wir doch einen Dolmetscher brauchen. Jemand sagte mir, er sei der Schüler von Henrik 19530.«
»Also niemand von uns?«, meinte die neugierige Sonja lässig und wurde erheblich gleichgültiger.
Das Bild im Anmelder verschwand, denn Aïne hatte die Hängetüre durch einen unsichtbaren Hebel geöffnet. Alfred und die Alte betraten den Raum.
Während der junge Mann sich vor dem Diwan voll vornehmer Bürgerinnen tief verneigte, öffnete die Frau in grenzenlosem Erstaunen Augen und Mund, so weit dies nur irgend möglich war. Auch die Mädchen waren vor Neugierde verstummt und musterten mit forschenden Blicken den wunderlichen Gast. Die Alte drehte den hässlichen Kopf auf den gekrümmten Schultern nach rechts und links, zum Fußboden, dessen Glätte so unendlich beschwerlich für ihre beschlagenen Schuhe war, und hinauf zur Decke, zu den tanzenden Parfümflämmchen, die wie rosige Vögelchen zwischen den Perlenketten auf und nieder kletterten. Dieser Anblick schien offenbar alles, was sie in A 15 bisher gesehen hatte, an Seltsamkeit zu überbieten. Sie stieß ein dumpfes »Ah« aus und deutete mit dem behaarten Finger hinauf. Dann stieg ihr der starke, künstliche Rosenduft in ihre Nase. Grinsend verzog sie das Gesicht nach allen Seiten, so dass die Mädchen laute Rufe des Abscheus ausstießen, und nieste dann unter schrillen Schreien wohl ein halbes dutzendmal hintereinander.
»Sie ist nur an natürliche Luft gewöhnt«, glaubte Alfred erklären zu müssen und bereitete damit der nicht geringen Besorgnis der Damen auf dem Diwan ein schnelles Ende. Sogar Lilith, die das Ganze für eine Art von barbarischem Kampfgeschrei gehalten hatte, wagte sich wieder zwischen den Polstern hervor. Jetzt entdeckte die Hüttenbewohnerin die kleine Lais. Sie versuchte, sie mit merkwürdigen Zungenlauten zu locken. Da das Tier sie aber nur schläfrig anblinzelt, sagte sie entrüstet: »Jetz, is des amal a fauls Viech!«
Die jungen Damen lachten und amüsierten sich besser als jemals im Leben. Das war doch wirklich etwas anderes, etwas viel interessanteres als alle die gewohnten Kulturvergnügungen! Nur Aïne saß still da und betrachtete mit unbeweglichem Gesicht die seltsame Frau. Durch Gebärden baten sie nun das alte Weib, einen der plumpen, schwarzen Schutzschilde auszuziehen, die es an den Füßen trug. Gutmütig erfüllte die Hüttenbewohnerin diesen Wunsch und reichte ihnen das schwere, mit Metall beschlagene Ungetüm hin, damit sie es genau besichtigen könnten. Sie versuchten als Scherz sogar, es an die Füße zu ziehen und mit ihm Schritte zu machen, aber es erwies sich als so groß, dass es abglitt und immer wieder mit lautem Schlag zu Boden fiel. Dann kamen die Schürze und das Kopftuch, das bisher von Sonja für einen merkwürdigen Rundhelm gehalten worden war, an die Reihe. Die Bäuerin lachte in dumpfen, gurgelnden Lauten, und ihr ganzes, braunfaltiges Gesicht wurde zu einem einzigen Grinsen. Die jungen Bürgerinnen kicherten und mischten das helle Zwitschern ihrer zarten Kehlen hinein. Es war ein allgemeines Vergnügen, obgleich die eine Partei die andere nicht zu verstehen vermochte und der Dolmetscher alle Mühe hatte, in dem herrschenden Lärm zu Worte zu kommen. Sogar die schläfrige Lais wachte auf und ließ Gähnen und schwaches Knurren hören.
Im Stillen bewunderte Alfred die unendliche Gutmütigkeit und Freundlichkeit seines Schützlings. Sie ließ sich nach rechts und links drehen, bückte sich, zeigte Zähne und Hände, sie zupften sie in übermütiger Ausgelassenheit an Haaren und Ohren, untersuchten ihre Kleider – sie benahmen sich ihr gegenüber eigentlich nicht anders als gegenüber den kleinen Seidenlöwen, das zerbrechliche Spielzeug ihrer guten oder schlechten Laune. Alfred konnte nicht glauben, dass die Hüttenbewohnerin so dumm war, dass sie dies nicht merkte. Vielmehr hatte er aus manchen Äußerungen, aus ihrer ganzen Art, unzweifelhaft entnehmen können, dass sie, wenn auch in recht beschränkten Grenzen, klar und richtig zu denken vermochte. Es musste also bei ihr eine natürliche Gutmütigkeit vorhanden sein, die sie veranlasste, sich so und nicht anders zu benehmen. Eine Gutmütigkeit, von der bei der Kulturbevölkerung im allgemeinen nur äußerst wenig zu spüren war.
Mitten in diesem Tumult öffnete sich die Hängetür und Marian 27974 trat ein. Im ersten Augenblick schien es, als wolle er vor dem lärmenden Lachen sofort wieder fliehen. Dann aber schloss er die Türe und ging, ohne die andern auch nur zu beachten, auf Aïne zu, vor der er sich in einem genau berechneten Winkel verbeugte. Nach dieser Begrüßung blieb er aufrecht mitten im Zimmer stehen, steif, wortlos, mit einem so unbeweglichen Gesicht, als trage er eine Maske aus Porzellan.
Die Fransen des kunstvoll gepressten Tuches aus veilchenfarbenem Stoff hingen reglos auf seine schmalen Schultern herab. Die Hände mit den langen, unglaublich beweglichen Fingern ruhten in den Falten des hellvioletten, goldbordierten Gewandes. Obwohl er weder etwas sagte, noch eine Bewegung machte, war er der ausdrucksvollste Protest gegen die fröhliche Unruhe der übrigen. Und wirklich, die Mädchen schwiegen und rückten gesittet auf dem Diwan zurecht.
Nur die Hüttenbewohnerin kümmerte sich nicht um seine vornehmen Gesten. Sie tat einen Schritt auf ihn zu, schaute ihm von unten herauf ins Gesicht, und machte halb belustigt, halb erstaunt: »Häh ...«
Marian zog ein Fernrohr aus dem Gewand und mit Bewegungen, die aussahen, als hinge jedes seiner Glieder einzeln an einem Draht, der von einer unsichtbaren Hand gezogen würde, ging er um die Alte herum und betrachtete sie wie ein seltenes Wundertier von allen Seiten. Leila lachte laut auf. Es wäre ihr unmöglich gewesen, zu schweigen, und wenn es ihr das Leben gekostet hätte. Aber sie erntete nur einen missbilligenden Blick von Aïne, während die andern sich nicht zu bewegen wagten. So groß war die Furcht von Marian, der in allen Dingen der Kultur tonangebend war, als unmodern angesehen zu werden.
Endlich war er mit seiner Musterung fertig. Er hob die hellen, fast farblosen Augen und sagte mit einer ganz gleichmäßigen Stimme ohne jeden Ausdruck: »Haben die verehrten Einheiten sich von den wichtigen Unterschieden dieses Urmenschen im Verhältnis zu unserer hochgeistigen Rasse überzeugt?«
Die Einheiten schüttelten den Kopf. Nein, sie hatten wirklich nicht daran gedacht. Es war so lustig gewesen, sich über die Alte zu amüsieren. Marian fing die erwartungsvoll auf ihn gerichteten Blicke ein, dann fuhr er fort: »Ich darf vielleicht eine der verehrten Einheiten bitten, sich zu mir zu bemühen!« Er sah suchend umher, bis er Aïne fand, die still wie eine an ihren Platz gestellte Puppe dasaß und zuhörte.
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