Henrik sah die beiden jugendlichen Schwärmer ein wenig belustigt an. Dann wies er auf ihre Kleider: »Ist das alles, was ihr zu dieser Reise mitzunehmen gedenkt?«
»Oh, wir werden alles draußen bekommen. Einige Stunden vom Grünsee ist ein Bergdorf, ich war schon einmal da. Ich glaube, dort kann man sehr gut bleiben. Wir kaufen natürlich ein Haus ...«
»... und Schafe, und Hühner! Hühner müssen unbedingt dabei sein!« Jolán klatschte entzückt in die Hände. »Ich habe noch nie ein Huhn gesehen, ich freue mich so!«
»Was du willst, Herz! Sogar ein Schwein, wenn es dir Spaß macht!«, sagte Daniel zärtlich. Dann wandte er sich stolz zu dem Gelehrten um, der inzwischen unbeirrt weiter aß. »Stellen Sie sich nur vor, schon seit einem Jahr hat sie heimlich Geh-Übungen gemacht! Sie hat mir kein Wort gesagt, und jetzt kann sie beinahe so gut laufen wie ich. Ist das nicht rührend lieb? Diese Autinos sind ja einfach ein Unfug, geradezu ein Verbrechen gegen die Gesundheit der Menschen! Wozu hat denn der Mensch seine geraden Beine? In früheren Jahrhunderten ist man auch zu Fuß gegangen!«
»... oder gefahren ...«, erlaubte sich Alfred einzuwenden.
»Ach was, du! Du Kulturnarr!« Daniel stürzte sich auf ihn.
»Still, Kinder, Vorsicht! Man weiß nicht ... das Ungerade Amt hat immer noch die besten Ohren in der Stadt. – Übrigens bin ich bereit.« Henrik stand mit diesen Worten auf.
Während sein Schüler sich beeilte, den in Unordnung geratenen Esstisch durch einen Druck an ein gläsernes Knöpfchen unter dem Fußboden verschwinden zu lassen, so dass nur noch das silbern glänzende Sonnennetz in der Ecke strahlte, ging Henrik mit den beiden zum Lift. Mit eiligen, aber ungeschickten Schritten – er hatte in seinem Leben niemals Geh-Übungen gemacht, sondern sich stets auf sein Autino verlassen – folgte Alfred ihnen.
»Würdet ihr wagen, mit mir auf der Transportbahn zu fahren? Ich habe die Erlaubnis, und sie kreuzt gerade dort vorbei. Bequem ist sie nicht, aber schnell und ganz ungestört«, sagte Henrik.
Joláns Augen glänzten. »Oh, ich war noch nie unten. Sicher ist es sehr interessant, nicht, Daniel? Oh, wir möchten gern!«
»Dann kommt!«
Alfred stand schon an der Türe des Lifts und schaltete ein paar Hebel um. Schweigend fuhren sie hinab. Immer wieder tauchte weißes Licht an den Glaswänden der engen Kabine auf. Eine Sekunde dachte Daniel daran, dass dies wohl für lange Zeit, vielleicht für immer, die letzte Fahrt für sie beide sein würde. Aber das schreckte ihn nicht. Mit seiner Jolán würde er frei und glücklich leben, selber ein Feld bebauen, Obst ernten oder zuweilen ein Lamm schlachten. Es gab nichts so Wünschenswertes in dem großen Warenhaus der Kultur wie diese einfachen und mühevollen Dinge.
Die Glasscheiben glühten plötzlich in mattrotem Schein. Der Lift stand. Henrik öffnete als erster die Tür. Ein hoher gewölbter Gang wand sich vor ihren Augen in ein purpurnes Dunkel hinein, über dem Sonnennetze wie silberne Monde schwebten. Es war erfüllt von huschenden, schmalen Schatten, die donnernd vorbeiflogen, sich in der Ferne verloren und rastlos von neuem auftauchten.
Hier unten war das Reich der Maschinen, die man in diese flammenfarbene Dämmerung verbannt hatte, seit es einem Physiker zu beweisen gelungen war, dass dieses Farbe die elektrischen und Quantenströme, von denen sie gespeist wurden, günstig beeinflusste. Man musste so wie Henrik einer ihrer Herren sein, so wie er die Gesetze ihrer Funktionen beherrschen, um sich ungestraft herunter wagen zu dürfen, wo Räder und Hebel von Drähten, strömenden Gasen und Säuren gelenkt und geleitet wurden, und wo eine atemraubende, dröhnende und von unerhörten Gefahren erfüllte Hölle lärmte.
Der Gelehrte jedoch ließ sich nicht beirren. Während Jolán und Daniel sich enger aneinander schmiegten, winkte er Alfred heran und hieß ihn kurz nacheinander zwei metallene Griffe an einer aus dem Boden ragenden Stange niederdrücken. Sogleich verlangsamte sich der nächste der wie ein Boot geformten Wagen, die räderlos dahinglitten oder vielmehr zwischen halbmondförmigen Schienen gleichsam flossen. Mit einem raschen Sprung war Henrik oben, das Gefährt stand. »Hinauf! Schnell!«, rief er seinen Begleitern zu.
Alfred, der schon hier unten gewesen war, warf den jungen Mann und das Mädchen beinahe hinein und sprang selber schnell nach, als das Gefährt sich schon anschickte, von neuem davonzurasen. Denn hinter ihm donnerte bereits sein hoch beladener Nachfolger heran. Halb betäubt machten es sich die drei auf den Warenballen in der Tiefe des Bootes einigermaßen bequem, während sie an dem eisigen Windzug die Schnelligkeit der Fahrt fühlten. Fast noch zehn Minuten hatten sie zu fahren und nur mehr wenige Umschaltestellen zu passieren, die allein gefährlich werden konnten. Langsam kehrte Henriks Ruhe zurück, da er durch die Leitung des Fahrzeugs verhindert war, seinen Gedanken nachzuhängen. Mit einem plötzlichen Ruck riss er dann den Hebel herunter. Das Gefährt glitt nur noch im Nachzittern des ausgeschalteten Stromes. Alfred, der auf diesen Moment gewartet hatte, half Jolán heraus. Daniel folgte und reichte dem Gelehrten den Arm. Der Hebel flog wieder in die Höhe, und durch die zurückgehaltene Kraft schnellte der Wagen in sausendem Schwung davon. Die vier Menschen reichten sich die Hände, um ungehindert und ungefährdet hinauszugelangen. Türen öffneten und schlossen sich, kalte und glühende Luft drang auf sie ein. Überall hinter Hebeln und Schalttischen standen Beamte, deren aufmerksame Gesichter rötlich wie Masken angestrahlt schienen. Endlich waren sie draußen.
Dort erleuchteten drei weiße Kugeln einen nur durch Gitter verschlossenen Raum, dessen eine Seite sich zur Ebene hin öffnete. In seiner Mitte stand das Arachnion, mit dem sie reisen wollten, wie das Gerippe eines vorsintflutlichen Tieres und glotzte mit erloschenen Scheinwerferaugen seinem Besitzer entgegen. Alfred schwang sich behutsam über die hohe Treppe zur Gondel hinauf, die unter dem Kreuzpunkt der acht dünnen Stelzenbeine des Ungetüms in elastischen Angeln hing. Da flammten auch schon die Richtungslampen an der Stirne der Rennmaschine auf, grell, blendend weiß.
Jolán war entzückt, als ihr Geliebter sie die schwankenden schmalen Stufen mehr hinauftrug als -führte. Sie war noch nie in einem Arachnion gewesen. Dessen Besitz setze eine Erlaubnis des Geraden Amtes voraus, die niemandem unter 15000 Steuereinheiten erteilt wurde. Die geräumige Gondel war mit Decken und Kissen gepolstert und Alfred machte sich das Vergnügen, dem Mädchen die Schubfächer mit Essen, Wasser und Instrumenten, die kleinen Behälter für Medikamente, Aurolpastillen und Alkonfläschchen, zwei Tischchen, Waffen und Lampen, sowie das bewegliche, gläserne Regendach zu zeigen.
Inzwischen war auch Henrik oben angekommen und ließ sich am Führersitz nieder. Er drehte sich das Sonnennetz, das an seiner Seite glimmte, zurecht und überprüfte Schrittmesser, Kompass und Karte mit flüchtigem Blick. Während Alfred, der diese Nacht den Dienst im Laboratorium hatte und deshalb, sowie auch seiner zarten Gesundheit wegen, auf der zehnstündigen Reise nicht mitkommen wollte, wieder hinabkletterte, machten es sich die beiden jungen Menschen in den warmen Polstern bequem. Sie waren voll Erwartung, voll von Wünschen und Hoffnungen. Leise tastete Joláns Hand nach dem Freund.
Knackend wurde die Treppe unter den Boden der Gondel gezogen, wo sie von eisernen Haken festgehalten wurde. Das hemmende Gitter sank langsam, stufenweise in die Erde. Die Bahn war frei. Das Arachnion griff mit seinen langen Beinen aus. Schneller und schneller hoben sich die stählernen Gelenke. Grellweiß vor den Scheinwerfern leuchtete der Boden. Darüber hinaus war die Luft grau und feucht. Sie brandete in stummem Wogen, in fließendem Gleiten gegen die Mauern der Weltstadt. In diesen Schleiern verschwand das Arachnion, das einen schweigsamen, alten Mann und zwei heimlich plaudernde Liebende trug.
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