Henriks Hass verflog bei dieser Antwort.
»Ich kämpfte ja um nichts anderes!«, rief er verzweifelt. »Was geschieht denn, wenn ich recht behalte? Wenn es wirklich eine Katastrophe gibt ... ein Ersticken in einem Luftsumpf oder ähnliches?«
Er starrte erregt den andern an, aus dessen Gesicht unwillkürlich die gleiche Angst antwortete, während Hohn und Brutalität völlig verschwunden waren. Beide schwiegen. Schwiegen vor der Erkenntnis einer unerbittlichen Sachlichkeit, die sie sowohl zum Handeln, als auch zum Verstummen zwang.
Dann sagte Henrik mit leiser und resignierter Stimme: »Sie glauben also, wenn ich zu Nummer 50000 gehe oder sonst irgendwie meine Überzeugung ausspreche, wird das Ungerade Amt mich für einen Traumfreund erklären und dorthin bringen lassen?«
Der Dünkel gewann im Gesicht des Beamten wieder die Oberhand; er setzte sich breit auf einen Stuhl und schlang das hellrote, mit seiner Einheitsnummer und den Abzeichen seines Standes geschmückte Gewand sorgfältig um die Knie. »Sie müssen mich recht verstehen!«, sagte er dann von oben herab, »die Sache verhält sich so: Wir vom Ungeraden Amt haben nichts gegen Sie persönlich, aber wir müssen so handeln. Die Bevölkerung der Städte leidet jetzt schon in zunehmendem Maße unter Nervenleiden und anderen Gesundheitsproblemen. Unsere Kultur hat uns eben sensibel und empfindlich gemacht. Da darf man ihnen nicht auch noch den Hunger zumuten! Und Sie wissen … die Geburtenzahl ... vielleicht lässt sich durch die Kunstnahrung wenigstens ein kleiner Ausgleich des fortwährenden Sinkens erzielen! Darum darf niemand verbreiten, dass die Kunstnahrung eine Katastrophe herbeiführen wird! Denken Sie an die Panik ... nein, besser nicht! Lassen Sie unsere Bürger sich erst einmal ein wenig erholen ... dann kann man vielleicht etwas ändern. Langsam, damit sie nicht erschrecken! Die Häuser der Traumfreunde sind voll genug , begreifen Sie doch! Auch erhoffen wir uns viel von einer Vermischung mit den Hüttenbewohnern, die wir in die Städte einbürgern wollen.«
»Ich verstehe!«, sagte der Gelehrte nach einer Pause, während Gustajo ihn erwartungsvoll ansah. »Ich verstehe Sie sehr gut! Aber ich frage Sie bei Ihrem Kulturgewissen nach zwei Dingen: Erstens, glauben Sie, dass mit der Zeit, sagen wir in ein bis zwei Jahren, wieder natürliche Nahrung, wenigstens teilweise, eingeführt wird und werden kann? Und zweitens: Was geschieht, wenn die von mir erwartete Luftzersetzung vielleicht in einem halben Jahr oder früher eintritt?«
Gustajo überlegte. Seine Arroganz ließ wieder nach. Schließlich entgegnete er würdevoll: »Auf das erste, Verehrter, kann ich unmöglich Auskunft geben, Amtsgeheimnis. Das zweite aber halte ich für ganz ausgeschlossen. Wir haben die Fakultäten aller dreihundert Weltstädte um ihre Meinung befragt. Es gab ja, wie gesagt, verschiedene Bedenken, aber so schlimm ... ich glaube wirklich, Sie sehen die Dinge zu schwarz!«
Henrik zuckte die Achseln. Er sah ein, dass er hier und wohl auch bei anderen zuständigen Stellen nichts erreichen würde. Man war sich so sicher, man hatte so viele günstige Gutachten, er konnte sich das ja denken. Eine unerhörte Mehrheit stand gegen ihn, den Einzelnen. Was sollte er da tun!
»Ich kann nicht versprechen, dass ich meine Untersuchungen einstellen werde«, meinte er dann zögernd.
Der andere lächelte. »Das verlangen wir ja auch gar nicht. Sie sollen nur nicht darüber sprechen. Sie verstehen?«
»Ich verspreche nicht einmal das. Nur solange ich keine offenkundigen Beweise habe, ich meine Beweise, die jedes Kind einsieht, werde ich nichts sagen. Schon im eigenen Interesse nicht. Aber dann ...«
»Wir wollen das abwarten. Ich bin überzeugt, Sie werden gar nicht in diese Lage kommen.«
Gustajo erhob sich und bestieg umständlich sein Autino. Dann grüßte er herablassend. In dem blauen Licht sahen seine geröteten Wangen und die aufgedunsene Stirn heimtückisch aus. Er wollte noch etwas sagen, noch einmal an das Haus der Traumfreunde erinnern, aber als er das nachdenkliche Gesicht des Gelehrten mit einem Blick von der Seite streifte, schwieg er. Die Drohung hatte schon zur Genüge gewirkt. Die Gewaltpolitik des Ungeraden Amtes hatte wieder einmal gesiegt, diesmal sogar scheinbar zu Recht. Der alte Wirrkopf würde schweigen!
Aber ... verdammt! Wenn er nun doch recht behielt?! Mit einem unbehaglichen Gefühl winkte Gustajo 25854 dem ganz in sich Versunkenen zu, ohne dass dieser es auch nur beachtete. Gleich darauf rollte das Autino nach hinten, und wenige Sekunden später schloss sich die Hängetüre in den lautlosen Angeln.
Mit schwerem Aufseufzen begab sich der Gelehrte wieder an seinen Platz vor den Kristallkolben. Ohne Zucken brannte dort der blaue Flammenbogen. Manchmal stieg in den gläsernen Röhren ein dunkles Brodeln auf oder eine silbern schimmernde Luftblase löste sich langsam von der durchsichtigen Wand. Da drinnen lag das Geheimnis dessen, was kommen würde …
Lange stand er und grübelte über das eben Erlebte nach. Dann schaltete er mit schnellem Entschluss den Flammenbogen aus. Einige Herzschläge lang glühten noch die Kohlenstifte, wie rote Funken vor den plötzlich geblendeten Augen, dann floss nur noch eine zarte, bläuliche Dämmerung durch den hohen Raum. Henrik verschloss die Tür und fuhr mit dem Lift zu seinem Dachgarten hinauf, um dort seine Abendmahlzeit einzunehmen.
Oben war es warm, und ein lauer Wind brachte den schwülen Dunst der Ebene mit. Fern am blauschwarzen Horizont lagerte noch ein etwas hellerer Streif mit einem letzten Hauch von Violett. Über der Weltstadt aber glitzerten die Sterne, blass, unruhig und zuweilen wie in einem Sturm erzitternd. Überall auf den Dächern leuchteten die weißen Sonnennetze mit ihrem unirdischen Licht. Lachen und Plaudern ließen die Stille des Dunkels nicht ruhen. Rufe drangen aus der Tiefe, und als Henrik sich über das Geländer beugte, erkannte er weit unten dahingleitende Lichtkugeln und erinnerte sich, dass die Jugend noch immer das Fest des letzten Kultursieges mit Lampen und fröhlichen Umzügen feierte. Da überfiel ihn von neuem die ganze Schwere seiner heimlichen Sorge, und hastig setzte er sich an den Tisch, um von dem Eiweißbraten, den Früchten und dem gerösteten Brot zu essen.
Er blieb nicht lange allein. Nach kurzer Zeit wurde die Türe des Lifts von neuem zugeschoben, und sein Schüler Alfred 6720 trat mit seinen Freunden Daniel 8726 und Jolán 10492 an den Tisch, wo sie erwartet wurden. Die drei jungen Leute brachten eine Atmosphäre von Bewegung und Erregtheit mit sich, die den Gelehrten aus seinen Gedanken riss. Am lautesten war Daniel, ein lebhafter Jüngling mit dunklen Locken, der seiner Freundin Jolán wie ein Zwillingsbruder ähnlich sah und stets voll Widerspruch gegen alle öffentlichen Ämter steckte.
Seit man ihm aus Rasseprinzipien, eben dieser Ähnlichkeit wegen, nicht gestattet hatte, Jolán zu heiraten, lehnte er, soweit es ihm möglich war, überall gegen die berufenen Kulturvertreter auf. Jetzt brannte er geradezu vor Ungestüm.
»Haben Sie uns nicht vergessen?«, fragte er noch ein wenig atemlos den alten Freund.
Der lächelte über den Hitzkopf. »Nein, mein Junge, ich habe nichts vergessen. Wir können gleich gehen, wenn du mir nur erlaubst, fertig zu essen.«
»Ach ... verzeihen Sie ... ich habe nicht bemerkt ...«
»Solche Dinge bemerkt Daniel nie!«, warf Alfred ein.
»Nein ... wirklich! Ich bin noch ganz geladen, was diese Nummer 50000 zusammengeredet hat ... Unglaublich! Der berufsmäßige Lügner! Übrigens, wir haben uns jetzt fest entschlossen, ganz bei den Hüttenbewohnern zu bleiben, nicht nur versuchsweise, wie wir bis jetzt geplant hatten. Wenn Sie uns also hinaus bringen wollen, wie Sie freundlicherweise versprochen haben, ist es voraussichtlich für immer.«
»Man munkelt nämlich von einem Verbot, die Stadt ohne Erlaubnis zu verlassen«, fügte die hübsche, schlanke Jolán hinzu.
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