Er begriff, dass sie ihn nach seinen Wünschen fragte, und versuchte, ihr nochmals seinen Vorschlag begreiflich zu machen, indem er ihre Sprechweise so gut wie möglich nachahmte.
»Brauchst du etwas?«, fragte er von neuem.
Doch sie glotze ihn nur weiterhin dumm an. Sie hob einen um den Leib gebundenen, buntfarbenen Lappen aus einem ihm unbekannten Stoff an die Augen und schluchzte: »Mir hand kei’ Feuer nit! Mir könna nit kochen!« Und sie machte mit den Händen eine Bewegung, als ob sie in einem Topf rühren wollte.
Alfred nickte, aber er wusste nicht, wie er ihr helfen sollte. So begnügte er sich also, tröstend zu sagen: »Man wird Euch geben, was Ihr braucht. Das Amt wird Leute schicken, die Euch alles zeigen!« »Häh?« fragte das Weib, das ihn nur zum Teil verstanden hatte. »Ich hör’ nit gut! Bei uns daheim ... da gibt’s sell alles nit!« Sie wies um sich auf die Häuser und Straßen.
Ein Teil ihres Misstrauens war verschwunden. Sie fand, dass der vor ihr Stehende zwar immer noch merkwürdig, aber lange nicht so böse aussah wie jene Leute, die vor vier Tagen in ihrem kleinen Ort zwischen dem Bergvorland und einem versumpften Wald eingedrungen waren und ihnen befohlen hatten, sofort ihre wichtigste Habe zusammenzupacken und ein Fahrzeug zu besteigen, das nachher mit ihnen durch die Wolken davongeflogen war. Natürlich hatten sie sich zuerst geweigert, aber ein Dokument in ihrer Sprache, mit Siegeln und altmodischen Stempeln versehen, sowie die drohende Energie der unbekannten Männer hatten sie zuletzt doch veranlasst, allen Widerstand aufzugeben. Nun waren sie hier und wussten nicht, was sie tun sollten, vor allem weil die Männer sogleich auf das Gerade Amt zur Meldung geholt worden waren.
Während die Frau halb feindselig, halb hilfesuchend Alfred mit ihren kleinen, nahe aneinander stehenden und tiefliegenden Augen anblickte, begann der eingesperrte Haushahn in einem verschlossenen Korb neben ihr ungeduldig laut zu krähen. Der junge Mann beugte sich sofort zu dem Bündelhaufen herunter und versuchte, das schreiende Geschöpf zu finden. In der Stadt gab es keine Zuchttiere; Fleisch wurde schon so lange künstlich hergestellt, dass die wenigsten Bürger außer der zahmen Seidenlöwen nie ein lebendiges Haustier gesehen hatten. Das Bauernweib erbarmte sich des hungrigen, gefiederten Hausgenossen. Sie griff in ihr Kleid und reichte ihm in der offenen Hand ein Häufchen Getreidekörner, die Alfred zu seiner Freude sofort als solche erkannte. Der Hahn hob die Flügel, blinzelte mit roten Augen und begann zu picken. Aufmerksam sah der Städter zu.
Die Frau erklärte gutmütig: »Sell isch unser Gockel!«, und Alfred wiederholte »Gockel« und zeigte gelehrig auf das Tier.
Dann lachten sie beide, und mit diesem Lachen kamen sie sich mit einem Male um eine ganze Welt näher. Der Kulturmensch empfand fast ein verwandtschaftliches Gefühl für das vorsintflutliche Geschöpf, von dem er im ersten Augenblick tatsächlich nicht gewusst hatte, ob es ein Mensch oder der Klasse ausgestorbener Tiere zugehörig sei. Er wollte mehr von ihr und ihrem merkwürdigen Leben erfahren, als plötzlich auf dem gegenüberliegenden Pflaster der Straße grellrote, türhohe Buchstaben erschienen: Zwei Uhr Vortrag Platz 1! Die neuen Bürger sollen alle kommen!
Die Bäuerin folgte der Richtung seines Blickes und schrie vor Entsetzen über die aus dem Boden aufsteigenden Worte laut auf. Aber Alfred fasste mutig mit seinen kleinen, schneeweißen Händen nach ihrer riesigen, harten, braunen Tatze und redete beruhigend auf sie ein. Wenn es ihm auch nicht gelang, sich ganz verständlich zu machen, so fasste sie doch bald Zutrauen zu ihm. So entschloss sie sich, nachdem die sie beängstigende Schrift verschwunden war, mit ihm zu Platz 1 zu gehen. Er erzählte ihr, dass sie dort auch ihren Mann sehen würde. Einem kleinen Jungen, der zwischen seltsamen, bunten Polstern – Alfred hielt sie für Ziegel – hockte, befahl sie, auf den Hausrat achtzugeben, und sie ließ sich dann von Alfred fortziehen.
Allerdings machte das gemeinsame Gehen Schwierigkeiten. Zwar entsprach die niedrigste Geschwindigkeit des Autinos etwa der Größe ihrer Schritte, doch drohte ihr weites Gewand sich andauernd in die komplizierte Mechanik zu verwickeln. Gehen aber konnte der Städter nicht, denn die Kraft seiner Füße reichte nur aus, ein Autino zu lenken, in einem Zimmer kleine, nicht ganz sichere Schrittchen zu machen oder ein Arachnion zu ersteigen. Niemals aber wäre er ohne sein Autino bis Platz 1 gelangt, am wenigsten in den schweren, plumpen Schutzschilden, wie sie die Bäuerin trug, die offenbar nicht die geringste Eigenbewegung hatten. Sie schienen aus einer geschwärzten Tierhaut zu bestehen. Im Museum wurden ganz ähnliche aufbewahrt, als Zeichen der Barbarei früherer Jahrhunderte hatten sie ihm von jeher ein geheimes Grauen eingeflößt.
Überhaupt, so wie Alfred zum ersten Male mit der Möglichkeit eines Vergleiches an sich heruntersah, musste er gestehen, dass die städtische Art zu leben doch vieles für sich hatte. Der arme Daniel, vielleicht bereute er jetzt schon seine Flucht, die ihn zwang, ein Leben voll Gefahren, Unbequemlichkeiten und Abhärtungen zwischen tierisch riechenden und wohl auch so denkenden Menschen zu führen! Aber Daniel und Jolán gehörten nicht zur Gehirnrasse, sie besaßen einen viel stärkeren Körper, da mochte es ihnen gar nicht so schwerfallen. Am leichtesten freilich würde es Henrik in einem solchen Falle haben, da er viele Jahre seiner Jugend mit der Erforschung der Natur zugebracht hatte. Aber selbst er zog es vor, die Bequemlichkeiten der Stadt weiterhin zu genießen.
Nach einer anstrengenden Wanderung war endlich Platz 1 erreicht. Der angekündigte Vortrag hatte noch nicht begonnen, doch der größte Teil der Bürgerschaft hatte sich bereits versammelt. Mehr denn je glich die Weltstadt in diesem Augenblick einem aufgedeckten Ameisenhaufen, der an einer bedrohten Stelle die Mehrzahl des wimmelnden Volkes vereint. Aber diese Ameisen waren bunt, und viele von ihnen schimmerten wie Kristalle. Diese Glänzenden waren Frauen und Mädchen. Obwohl stets etwas größer oder mindestens ebenso groß wie ihre Gatten und Freunde, schienen sie doch infolge ihres zarten Körpers und ihrer seltsamen Gewänder wie Schmetterlinge dahinzuflattern. Ein glasähnlicher und dennoch in allen Farben irisierender Stoff schmiegte sich wie eine zweite Haut dicht an ihre sehr schlanken Glieder und breitete sich nur am Hinterkopf in einem Ornament in Gestalt eines Sternes aus, von denen jedoch jeder seine besondere Form hatte. Das Haar, viel üppiger als das der Männer, fiel zu beiden Seiten der Schläfen unter einem funkelnden, fest anliegenden Rundhelm in kurzen Locken herab. Diejenigen der Frauen, die besonders elegant sein wollten, zeigten gar kein Haar, sondern der Rundhelm setzte sich in einer Art regenbogenfarbiger Wellen fort, die sich am Nacken verloren.
Dieser schimmernden Schwarm bewegte sich unablässig. Die vielen Stimmen vereinigten sich zu einem durchdringenden, halblauten Summen, das über dem Platz wie Grillen schwirrte. Da und dort hatten sich Gruppen junger Männer zusammengefunden, deren riesige, kahle Schädel das blaue Licht des Himmels widerspiegelten. Fast alle trugen Fernrohre in der Hand, um die Frauen betrachten zu können. Überall gab es lebhaften Meinungsaustausch.
»Siehst du!«, sagte einer der jungen Bürger. »Hier führt deine Schwärmerei für die altmodische Erziehung der Frau als Kameradin hin! Sieh nur mit welcher Dreistigkeit sie sich uns gegenüber gleichgültig benehmen! Sag selber, so sind sie doch bestenfalls ein guter Freund mehr!«
»Du wirst mich nicht überzeugen, Edmond!«, widersprach der andere. »Auch wenn du auch ein Vertreter der neuen Pädagogik bist, die von Frauen verlangen, so schön und nutzlos wie eine Blume zu sein. Ich bitte dich, was findest du nur an einem so schweigsamen, törichten, ewig lächelnden Geschöpf?«
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