Und diesem Mann sollte er, Henrik 19530, begreiflich machen, dass alle diese schönen, edlen und beglückenden Aussichten seiner Meinung nach nichts als unwahre und törichte Hirngespinste seien, die sich eines Tages unerbittlich in ihr Gegenteil verkehren mussten!
Ja, gewiss, man konnte künstliches Brot, künstliche Früchte, Zucker, Fett, Gewürze und hundert andere Dinge aus der Luft, vor allem aus Wasserstoff, dem Urelement, herstellen! Aber hatte denn niemand die Gefahr beachtet, die entstehen musste, wenn dieses Reservoir einmal erschöpft war! Oder wenn sich in dem natürlichen Kreislauf, der die Umwandlung des Lebens in Tod und wiederum in neues Leben durchlief, eine Störung zeigte, die nicht wieder gutzumachen war! Was dann? Seine Versuche wurden immer deutlicher ein einziger Schrei der Warnung. Er musste morgen zu Nummer 50000 gehen!
Der dunkle, gläserne Würfel, der auf dem Tisch befestigt war, leuchtete auf einmal in gleißendem Malachitgrün. Dies war das Zeichen, dass sich Besuch anmeldete. Henrik, glücklich, wenigstens kurz den quälenden Gedanken zu entrinnen, drückte schnell den Knopf an der Seite nieder. Augenblicklich zeigte sich auf der oberen Platte des Würfels ein Buchstabe und eine Zahl.
»G 25854«, las der Gelehrte. Dann besann er sich.
»Gustajo vom Ungeraden Amt ... Merkwürdig!«, brummte er vor sich hin. »Den hätte ich mir zwar zuletzt gewünscht. Aber er soll kommen!«
Nach einem zweiten Umschalten, das den gläsernen Würfel wieder dunkel und glanzlos machte, setzte er sich wartend an den Tisch und blätterte in seinen Büchern.
Nach einigen Augenblicken lautloser Stille öffnete sich hinten im Dunkeln die große Hängetüre. Ein Autino rollte über den glatten Boden und hielt in der Nähe des Lichtkreises an. Ein kleiner, plumper Mann stieg herunter und trat mit unbeholfenen Bewegungen zum Tisch. Ein paarmal strich er sich heftig atmend über den breiten, weißen Bart, der wie eine Maske fast das ganze Gesicht und die halbe Brust verhüllte. Dann sagte er mit rauer, kehliger Stimme: »Das Ungerade Amt sendet mich, Verehrter. Ich habe Sie um Auskünfte zu bitten.«
»Ich dachte es mir.«
»Also bitte. Man weiß von Ihren Geheimuntersuchungen«, sagte Gustajo und sprang wie mit einem Beil auf den alten Mann zu. »Ich bin berechtigt, jede Erklärung entgegenzunehmen. Das Ungerade Amt hat, wie Sie wissen, die Macht und die Pflicht, sich um alle kulturfeindlichen Bewegungen zu kümmern.«
Henrik schaute seinen Gegner ein wenig erstaunt an. Er hätte fragen mögen, wie das Ungerade Amt von seinen Arbeiten überhaupt erfahren hatte. Aber er war sicher, dass er von diesem Beamten, der als Grobian stadtbekannt war, nichts erfahren würde. Im Bewusstsein seiner guten Absichten entgegnete er sehr ruhig: »Das, an dem ich arbeite, ist nicht kulturfeindlich. Übrigens wollte ich ohnedies morgen zu Nummer 50000 gehen.«
»Wir« – der Fremde warf sich gravitätisch in die Brust – »wir wünschen nicht, dass Sie zu Nummer 50000 gehen!«
»Wenn ich es für gut finde, werde ich trotzdem gehen!«
Gustajo machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das wird sich finden! ... Vor allem, wozu machen Sie diese Untersuchungen?«
Der Gelehrte überlegte. Sollte er diesem Mann, der zwar die öffentlichen Grade eines Wissenschaftlers besaß, seit Jahren aber nur Sachverständiger und Berater des Ungeraden Amtes gewesen war, sollte er diesem Mann seine Sorgen mitteilen? War das klug? Aber hatte er denn eine Wahl? Das Ungerade Amt hatte die Befugnis, ihm sein Laboratorium einfach zu schließen und seine wertvollen Untersuchungen von anderen zu Ende führen zu lassen. Oder vielleicht auch nicht zu Ende führen zu lassen!
Eine ganze Flut von Befürchtungen brach wie ein Fiebertraum über ihn herein. Und von den möglichen Folgen war er so verwirrt, dass ein Verheimlichen ihm als das Schlimmste erschien.
Gustajo hatte sich ein paarmal höchst ungeduldig geräuspert und inzwischen misstrauisch die Einrichtung des Laboratorium gemustert, als der Forscher mit einiger Überwindung zu sprechen begann: »Da das Ungerade Amt auf mir unbegreifliche Weise von meinen Arbeiten unterrichtet zu sein scheint ...«
»... ganz genau unterrichtet sogar ...«
»... ist es wohl am besten, einiges zu erklären. Ich möchte keinen Missdeutungen ausgesetzt sein, als verfolge ich kulturwidrige Ziele.«
»Hm … man wird ja sehen!« Und auf Gustajos Gesicht machte sich ein dummdreistes Lächeln breit.
»Seit der Erfindung des künstlichen Fleisches – also seit fast zwanzig Jahren – forsche ich zum Thema Luftstickstoff. Sie sehen«, er wies auf die Kristallkolben, die blassblau glitzerten, »ich habe eine kleine Versuchsanlage. Durch die Entdeckung der neuen Nahrungsmittel sah ich mich veranlasst, meine Untersuchungen noch intensiver zu betreiben. Ich glaube – es tut mir leid, gegen meine Kollegen sprechen zu müssen –, ich glaube also, dass die unbegrenzte Aufspaltung und Verwendung der Luft zu Nahrung und sonstigen Dingen in absehbarer Zeit zu einer Katastrophe führen muss!«
»So?«
»Und darum wollte ich morgen zu Nummer 50000 gehen, um ihn zu warnen!«, schloss Henrik, der langsam ruhiger geworden war.
Gustajo 25854 stieß wieder heftig die Luft durch die Nase aus. »Das Ungerade Amt wünscht zu wissen, wer Sie dafür bezahlt, dass Sie diese falschen und kulturfeindlichen Ansichten in der Bürgerschaft verbreiten.«
Unter Henriks Hand zitterte das große Buch, mit dessen Blättern seine Finger bisher gespielt hatten. Schwer polterte der Deckel zu.
»Ich werde weder bezahlt, noch sind das kulturfeindliche Ansichten!«, antwortete er sehr bestimmt. »Man hat dem Ungeraden Amt falsch berichtet!«
»Das Ungerade Amt weiß, dass eine Reihe von niedrigen, äußerst obskuren Einheiten Einfluss auf die Bürgerschaft nehmen will. Auch gibt es bereits Gerüchte über die Schädlichkeit der neuen Nahrung. Hier scheint man ja endlich ...«
»Was sind das für Gerüchte?« Henrik hatte von Gustajos Antwort nur diesen einen Punkt beachtet. Vielleicht erhielt er hier eine Bestätigung seines eigenen Verdachts.
»Da müssen Sie im Haus der Traumfreunde nachfragen, wohin man einige dieser Einheiten heute gebracht hat«, knurrte der Beamte hämisch. »Vielleicht haben Sie bald Gelegenheit dazu.«
Der alte Gelehrte stand langsam auf. Das Haus der Traumfreunde! Also dorthin wollte man ihn bringen, wo die ihrer Sinne nicht mehr Mächtigen landeten, man wollte seine Arbeiten, seine Bemühungen, seine Besorgnis um die Menschheit unschädlich machen! Er hatte das Gefühl, als ziehe sich eine unsichtbare Schlinge fest um seinen Hals. Es fiel im schwer, alles dies zu begreifen. Nur das eine ahnte er, hier stellte eine Macht sich ihm und seiner Ehrlichkeit entgegen, die ihn vernichten konnte.
»Aber ... ich habe Beweise ... unanfechtbare Beweise! Ich bin ja doch kein Irrsinniger mit phantastischen Ideen! Ich habe viele Versuche gemacht ... ich kann Ergebnisse vorlegen ...« Der Atem ging ihm aus. Die Andeutung Gustajos, dass man ihn, den alten und nicht unbekannten Gelehrten, seiner Freiheit berauben und ins Haus der Traumfreunde für eine Zeit lang, vielleicht sogar für immer, sperren konnte, hatte ihn wie ein elektrischer Schlag getroffen. Mit einem Mal kam er sich völlig hilflos vor. Und gleichzeitig stieg für den Bruchteil eines Augenblicks ein dumpfer Hass gegen den plumpen, höhnischen Menschen in ihm auf, der brutal wie die Verkörperung seiner Behörde vor ihm stand.
Der vor ihm sah ihn gehässig an, als ahne er sehr wohl den Abscheu des anderen.
»Ob Sie recht oder unrecht haben mit Ihren Untersuchungen«, sagte er dann sehr nachdrücklich und im Bewusstsein seiner Macht, »kommt für das Ungerade Amt jetzt gar nicht in Frage. Viel wichtiger ist, dass das Ungerade Amt es war, das auf dem letzten Ständesenat die Einführung der Kunstnahrung durchsetzte, gegen verschiedene Widerstände. Denn der Ertrag des Bodens wurde so gering in den letzten Jahren, dass die Städte bald nicht mehr hätten ernährt werden können. Das Ungerade Amt also muss jeden unschädlich machen, der hier dagegen ist, begreifen Sie! Es geht letzten Endes um das Leben der dreihundert Weltstädte der Erde.«
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