Weniger ausgelassen, fast schon grimmig wird zur selben Zeit eine Buchhandlung eröffnet, die weltweit für Schlagzeilen sorgt. Lam Wing-kee, einer der fünf Buchhändler Hongkongs, der von der chinesischen Regierung Jahre zuvor entführt worden war und später nach Taiwan emigrierte, sammelte per Crowdfunding Geld für die Wiedereröffnung seines einstigen Causeway-Bay-Buchladens. Das gefällt nicht jedem: Wenige Tage vor der Eröffnung bewerfen ihn drei Männer mit roter Farbe.
Als ich seine Buchhandlung das erste Mal aufsuche, stehen im Gang davor zahllose Blumengebinde in Vasen, auch Präsidentin Tsai Ing-wen schickte einen Blumengruß. Der kleine Laden im zehnten Stock eines Hochhauses ist voll, Schulter an Schulter stehen Menschen vor den Regalen mit Büchern zu historischen und politischen Themen, westliche und chinesische Klassiker, Graphic Novels und tatsächlich zwei Bücher über die Innenpolitik Deutschlands. »Leergekauft« sei der Laden, heißt es kurz darauf in den Nachrichten, und tatsächlich sind die Regale bei meinem nächsten Besuch nur noch halbvoll. Wenige Wochen später sind die Blumen verschwunden und kaum Kunden anzutreffen. Dieses Mal aber entdecke ich andere und mehr Titel als bei meinem ersten Besuch. Lam Wing-kee wohne auch in seinem Buchladen, lese ich in einer Zeitschrift. Die Regale habe er maßschreinern lassen, der schmale Balkon sei seine Küche, dort koche er Tee, vielleicht noch eine Fertignudelsuppe. 20Ein Bett sehe ich nirgends.
Dann gibt es Buchgeschäfte mit ausgefallenen Architektur- und Kunstbüchern, manchmal mehr Kunst als Buch, bestickte Covers, Bücher als Handtasche, etwa in der Tianyuan-Buchhandlung (Gartenbuchhandlung) des gleichnamigen Verlags. Auch hier kann man Kaffee trinken, eine Kleinigkeit essen, ein Künstler hängt gerade seine Bilder über einer Sitzecke auf.
Auf dem Weg zur Buchhandlung im Kishu-An-Literaturwald sind Aphorismen bekannter Poeten ins Pflaster eingraviert. Ich will nicht auf sie treten, gehe einen mäandernden Weg um sie herum. Die Buchhandlung dort hat hauptsächlich philosophische Bücher im Sortiment. Ob sich diese Titel denn nicht schwer verkaufen, frage ich die Frau an der Theke, die neben Büchern auch Biobrot und Kaffee anbietet. Fast habe ich den Eindruck, als verstehe sie meine Frage nicht. »Doch, doch, gerade die anspruchsvollen Titel gehen gut, vielleicht, weil in diesem Viertel ziemlich viele Intellektuelle wohnen.« Im ersten Stock werden Veranstaltungen und Lesungen durchgeführt. Nachdem ich mir dort einen Film über den Lyriker Luo Fu angesehen habe, der in einem Militärbunker sein Lebenswerk Death in a Stone Cell 21schuf, liegt etwas Leichtes, Beschwingtes in der Luft.
Mangasick ist ein Untergrund-Comicladen, und das ist wörtlich zu nehmen. Es sei der erste dieser Art in Taiwan, sagt Emily. Er ist nicht einfach zu finden, kein Schild über oder neben der Tür, nur ein Aufkleber auf dem Briefkasten. Steil geht es eine sehr schmale, sehr dunkle Treppe hinunter ins Untergeschoss. Schuhe ausziehen, Mundschutz überstreifen, dann weiter durch eine kleine Galerie, dahinter der Verkaufsraum mit einem großen Tisch in der Mitte und darauf prominent Art Spiegelmans Maus . Daneben japanische Comics und die taiwanische Comic-Zeitschrift Monsoon , auf der anderen Seite jede Menge Zines, mal genäht, mal nur gefaltet, geklebt. Die Graphic Novels haben ein eigenes Regal. Viele Leute drängen sich gerade abends und an den Wochenenden um den Tisch in diesem viel zu kleinen Kellerraum, was mich für den Besitzer freut. Er verdient sein Geld mit Übersetzungen englischer und japanischer Prosa, weil mit dem Verkauf von Comics kein Lebensunterhalt zu bestreiten sei, wie er ein wenig beschämt erzählt.
Dass spezialisierte Buchhandlungen durchaus funktionieren, zeigt sich etwa in Shishenghuo (poetisches Leben). Hier wird ausschließlich Lyrik verkauft, hauptsächlich aus Taiwan und Hongkong, weil das Ehepaar, das die Buchhandlung führt, aus Hongkong stammt. Im Vergleich zu anderen Buchhandlungen, die einen Non-book-Anteil von zehn bis fünfzig Prozent haben, sieht man hier so gut wie keine buchfernen Objekte, dafür aber Gedichte auf Postkarten, »um es den Leuten einfacher zu machen, auch mal ein Gedicht zu lesen«, sagt die Inhaberin, und viele Zines, in denen Wort und Bild kombiniert werden. Gerade die kleinen Heftchen seien oft innerhalb eines Monats ausverkauft.
Zwar verschwinden laut Statistik immer mehr Buchhandlungen, und nicht überall, wo Buchhandlung draufsteht, ist auch eine Buchhandlung drin; einmal sehe ich Gemüse und Drogeriewaren ausgestellt. Doch man tue einiges, um die unabhängigen Buchhandlungen zu unterstützen, sagt Michelle Tu von der Buchmesse Taipei. Neben finanziellen Zuschüssen gebe es eine Messe für alle unabhängigen Buchhandlungen, einen Stadtplan, auf dem diese Buchhandlungen eingezeichnet sind, eine Website mit Hinweisen auf Veranstaltungen, Rezensionen, Schwerpunktthemen.
Buchhandlungen sind in Taipei offenbar tatsächlich lebendige Kulturknotenpunkte. Diese Entdeckung ist wie eine leise Freude.
Im April 2020 werde ich von Freunden um einen Lagebericht gebeten. Ich schreibe etwas.
Auf dem Weg zur U-Bahn komme ich jeden Morgen an einer langen Schlange vorbei. Die Menschen stehen für Gesichtsmasken an. Je nachdem, ob die letzte Nummer im Pass eine gerade oder ungerade Ziffer ist, kann man an dem einen oder anderen Tag in einer Apotheke mit der Krankenversicherungskarte die Masken zu einem subventionierten Preis kaufen, drei Masken zu umgerechnet sechzig Cent. Wer nicht so lange und womöglich vergebens anstehen möchte, weil die Masken ausverkauft sind, kann auf einer Website 22nachsehen, welche Apotheke wie viele Masken auf Lager hat. Dies initiierte die Digitalministerin Audrey Tang mit ihrem Team, weshalb sie von der Bevölkerung fast ebenso verehrt wird wie der Gesundheitsminister Chen Shih-chung, für den sogar Skulpturen wegen seines professionellen Krisenmanagements geschaffen werden.
In der U-Bahn gelten seit dem 1. April 2020 verschärfte Regeln. Am Eingang informiert ein Schild darüber, dass das Transportunternehmen keine Passagiere mitnimmt, deren Körpertemperatur 38 Grad übersteigt – was aber niemand kontrolliert –, und dass alle Passagiere Mundschutz tragen müssen. Bei Zuwiderhandlung muss mit einer Geldstrafe bis umgerechnet 450 Euro gerechnet werden – bei einem monatlichen Durchschnittsgehalt von etwa 1200 Euro.
Die Museen sind geöffnet. Im Museum für Gegenwartskunst wird am Eingang die Körpertemperatur gemessen, man muss sich die Hände desinfizieren, den Mundschutz überstreifen und ein Formular ausfüllen, in das man seinen Namen einträgt, seine Telefonnummer, und per Unterschrift versichert, dass man keine Symptome hat und auch in den letzten vierzehn Tagen nicht im Ausland war. In fast allen Einkaufszentren steht am Eingang Desinfektionsmittel. Trägt man keinen Mundschutz, wird man höflich dazu aufgefordert.
Die Universität hat eine Verordnung erlassen, wonach jeden Morgen die Temperatur zu messen und diese in einen digitalen Tagespass einzutragen ist; dieser muss am Eingang vorgezeigt werden. Der Pass wird aber nicht richtig kontrolliert; auch haben einige ausländische Studierende offensichtlich Probleme beim Herunterladen des Tagespasses. Am Eingang steht ein Temperatursensor, der warnend aufblinken würde, wenn die Körpertemperatur eines Besuchers 38 Grad und mehr beträgt.
Die Regierung handelt flexibel und erlässt Maßnahmen je nach Anzahl der Infizierten. Schulschließungen und Lockdown werden zwar von der KMT-Opposition gefordert und auch von einigen Experten, doch die Regierung hält sich zurück, weil sie die Folgen scheut. Vor allem kleinere Läden sind bereits im April 2020 finanziell stark angeschlagen – da befindet sich Taiwan im Corona-Monat vier des Jahres 2020 –, sodass Gutscheine verteilt werden, um den Konsum anzukurbeln. Diese Gutscheine kann man auch Arbeitsmigranten aus Ländern wie Indonesien und den Philippinen spenden, da diese Bevölkerungsgruppen, die ohnehin am Rand des Existenzminimums leben, von den Corona-Maßnahmen besonders stark beeinträchtigt sind. Die prekären Existenzen trifft es wie anderswo auch hier besonders hart.
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