Die Wenquan-Straße (Straße der heißen Quellen) will ich entlanggehen, weil mir eine Freundin einen Link mit Fotos von verfallenen Häusern geschickt hatte. Ich gehe allerdings in die falsche Richtung, entdecke einen japanischen Tempel, bin ein wenig zu unfreundlich zu einem Mönch, weil der mich auf Englisch ausfragen will. Ich gehe immer weiter die asphaltierte Straße bergaufwärts. Von oben sehe ich Beitou im Sonnenuntergang. Neben mir liegt ein Liebespärchen im struppig-trockenen Rasen. Ist sich selbst nicht genug, denn sie plappern unentwegt in ihre Smartphones und schauen dabei wie ich ins von der Hitze und den Quellen dampfende Tal hinab. Wegen der Moskitos breche ich bald wieder auf, habe mich schon wieder ganz rot gekratzt.
Auf dem Rückweg hinunter in die Stadt sehe ich sie im Dämmerlicht: Fenster wie schwarze Münder, aus denen Büsche wachsen, Tore, kaum mehr zu erkennen unter wildwuchernden Schlingpflanzen, geduckte Häuser, weil Bäume sich darüber breit gemacht haben. Wenn ein Haus lange leer steht, nisten sich Geister ein, habe ich bei Li Ang in ihrer Geisteranthologie Sichtbare Geister gelesen, und wenn Geister in einem Haus wohnen, lassen sich keine neuen Bewohner finden. Leere Häuser sprechen erst recht von den Abwesenden, in der Syntax der Verlassenheit, sie sind wie ein Splitter im Auge des Nachsinnens. Die Ruinen ergeben kein Bild.
Es wird immer dunkler, das Straßenlicht ist spärlich auf dem schmalen Weg. Irgendwann hört er abrupt auf, und ich stehe an einer vielbefahrenen Straße. Auf den Minibus zurück zum Bahnhof verzichte ich, kehre um und nehme denselben Weg wieder zurück. Auf einmal weiße runde Steine zwischen Weg und Bach, sie sehen aus wie Ufos, manche mit Augen. Sie sind aus Marmor. Auf einer Tafel steht: »Wunderliche unsichtbare Wesen leben hier.« Vielleicht im Dampf, der über den heißen Quellen aufsteigt, vielleicht in den verfallenen Häusern? Gleichzeitig dienen die Steine als Hocker und schützen die natürlichen Quellen sowie sämtliche Wesen, die hier leben, wird der Künstler Huang Ching-hui zitiert.
Über dem ganzen Ort liegt ein Geruch nach Schwefel, steigt womöglich auch aus dem Gully auf. Fließt selbst in den unterirdischen Kanälen heißes Wasser, vom Vulkangebirge gespeichert, das hinter Beitou aufragt? Ich wundere mich, wie lange ein Vulkan Hitze speichert und Jahrtausende später noch ausspuckt. Da erfasst mich die unermessliche Gesteinsewigkeit angesichts der Kurzlebigkeit eines Badeortes, der seine Vergangenheit in Ruinen bannt und Unsichtbares in weißen Marmorsteinen.
Es sind keine Geflechte, dafür sind sie zu starr, zu funktionell. Sie sind nicht mit der Stadt verwoben, auch wenn Stadtplaner dies vielleicht gern so sehen wollen. Schnell sollen Autos mit den Menschen darin um-, durch- und aus der Stadt geleitet werden.
Wie klebriges Ungeziefer schieben sich Busse darüber. Jedes Mal, wenn ich dieses Geschiebe sehe, denke ich an Kafkas letzten Satz aus dem Urteil : »In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.«
Brücken stehen halb oder auch ganz über Taipei, auf wuchtigen Betonpfeilern, in den Flussgrund gerammt, bei Ebbe sind die Sockel wie Zahnhälse freigelegt. Manche Brücken ziehen sich erst an Flüssen entlang, bevor sie sich zur Überquerung aufschwingen, liegen übereinander und über Kreuz, winden sich wie Luftschlangen, in Beton gegossen. Darunter fahren manchmal Boote hindurch wie in dem Film Flow von Su Ming-yen 19, wo Flussarme und Brücken neben- und übereinander liegen, die Bootsleute in eine steinerne Zukunft zu schippern scheinen, dabei zurückfahren in eine verschwommene Vergangenheit.
Unter den Betonbrücken Taipeis lebt die Stadt ihre Alternativen. Mancherorts sind diese Schutzräume wie Wohnzimmer; Zelte, kleine Hütten oder Buden stehen hier. Unter einer vierspurig befahrenen Brücke macht ein Grüppchen Taiji. Einen anonymeren Ort kann ich mir nicht vorstellen, doch womöglich finden sie hier Schutz vor dem Wind, der kalt vom Meer her weht. Am Abend steht ein Flötenspieler unter derselben Brücke. Weil er hier so selbstvergessen dem eigenen Echo lauschen kann? Neben sich hat er zwei Lautsprecher aufgestellt, hinter ihm steht eine kleinere Box mit der Playback-Musik. Unter dem nächsten Brückenbogen hüpfen junge Menschen mit einem Schwingseil, drehen Kurven mit den Rollerskates. Unter den Brücken ist der Asphalt glatt.
Etwas weiter steht ein roter, fahrbarer Tempel, die Weihrauchstäbchen sind erloschen. Mit dem Rücken dazu sitzen Männer auf Plastikstühlen und schauen zu, wie Frauen und Männer auf einem Kunstrasen Tennis spielen. Ich komme an einem Zelt vorbei, in dem schmachtende Liebeslieder geschmettert werden – egal, ob der Ton richtig oder falsch getroffen wird, allein die Inbrunst zählt.
Sind Buchhandlungen nur Buchhandlungen? Sind sie nicht. Stehen Bücher nur in Buchhandlungen? Nein, sie stehen überall, wo sie stehen können, in Clubs, Cafés, Kneipen, selbst im 7-Eleven-Supermarkt – so kommt das Buch unter die Leute, die keine Buchhandlung betreten würden.
In den unabhängigen Buchhandlungen, die mir von zwei Verlegern empfohlen wurden, trinkt man Kaffee, trifft sich mit Leuten, lernt. Die Buchhandlung Dúzi (Leser) liegt in der Nähe der Taiwan Normal University. Als ich meinen Laptop aufklappe, um für die Prüfung am nächsten Tag zu lernen, schläft ein Student am Nebentisch, vor ihm liegt aufgeschlagen ein dicker Wälzer, an der Wand hängen Wünsche all jener Autorinnen und Autoren, die schon einmal hier gelesen haben, davor sitzt ein Paar, er massiert ihr die Füße. Nur lesen tut hier momentan niemand.
Gedichte verkaufen sich am besten. Auf den Tischen sind zudem kreativ und sorgfältig gestaltete Zines ausgelegt. Der Buchhändler der genossenschaftlich organisierten Buchhandlung erklärt: »Gedichte kann man schneller lesen. Erzählungen, von Romanen ganz zu schweigen, das dauert einfach viel zu lang, bis man die durch hat. Wir nehmen die Zines gern in Kommission, und oft sind gerade diese Autorinnen und Autoren unsere besten Kunden.« Zwar sei der Umsatz um geschätzte dreißig Prozent eingebrochen, sagt er weiter – haben mir auch andere Buchhändler gesagt –, weil es wegen des Corona-Virus keine Veranstaltungen mehr geben dürfe. Buchhandlungen sind eben nicht nur Buchhandlungen, sondern hier finden vor allem an Wochenenden Diskussionen, Konzerte, Lesungen statt, lebendige Kulturknotenpunkte also und als solche aus dem kulturellen Leben der Großstadt nicht wegzudenken.
Dennoch bin ich skeptisch, als ich höre, dass ein großes Buchfest stattfinden soll, weil eine der populärsten Eslite-Filialen schließt, das erste Buchkaufhaus Asiens, das 2006 den 24-Stunden-Verkauf einführte. Wie beliebt dieses Buchgeschäft ist, zeigt auch der romantisch-melancholische Film Au revoir Taipeh! von Arvin Chen. Eine Buchhändlerin verliebt sich in dieser Filiale in einen von der Liebe Enttäuschten, der Französisch lernen möchte und deshalb jeden Abend vor einem Regal mit Französischbüchern am Boden sitzt. Geschlossen wird das Geschäft aber nicht etwa, weil sich die mehrstöckige Buchhandlung nicht mehr rentiert, sondern weil das Geschäft so gut floriert, dass die Vermieterin, eine Bank, das Gebäude nun selbst nutzen möchte.
Vor allem junge Menschen sitzen an diesem letzten Abend zwischen den Regalen am Boden oder wo auch immer es noch Platz gibt, nicht alle lesen ein Buch. Ein Jugendlicher malträtiert das Display seines Smartphones. Andere sitzen da und schauen den vielen Menschen zu, die sich durch die Gänge schieben. Es geht zu wie bei einem Räumungsverkauf, viele Regale sind nur noch halbvoll, wie beispielsweise jenes für japanische Sprachlehrmittel, aber auch im Lyrikregal klaffen große Löcher. Wird hier nur gefeiert oder auch gekauft? Ich will mich weiter umsehen, komme aber nicht weit. Im Gang stauen sich Menschen mit Stapeln in den Händen, vor den Kassen bilden sich lange Schlangen, dabei sind die Preise der meisten Bücher nicht heruntergesetzt, man hätte sie genauso gut auch tagsüber und anderswo kaufen können. Um Mitternacht wird dieses Buchkaufhaus geschlossen, dann begibt man sich in eine andere Eslite-Filiale, wo das Programm weitergeht, mit Musik und einer Koch-Show.
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