Wie soll man über ein Land schreiben, das es offiziell nicht gibt? Das keinem Vergleich standhält und immer wieder von neuem überrascht? Taiwan, die kleine Insel und Chipgroßmacht vor der südchinesischen Küste, hat in den letzten Jahrzehnten eine enorme gesellschaftliche Wandlung durchlaufen. Bürgerrechtsbewegungen ist es zu verdanken, dass der Übergang von einer Jahrzehnte andauernden Militärdiktatur zu einer der offensten und lebendigsten Demokratien Asiens so friedlich verlaufen ist.
Sechs Monate verbrachte die Sinologin und Schriftstellerin Alice Grünfelder 2020 auf Taiwan. Gesehenem, Gehörtem ist sie nachgegangen, hat über ihre Beobachtungen mit Taiwanerinnen gesprochen, hat versucht zu recherchieren, was sie nicht verstand. Herausgekommen ist eine Collage leichter, prägnanter Texte, jeweils überschrieben mit einem Stichwort; sie sind alphabetisch geordnet, reichen von »Abschied« bis »Zeichen«. Ob es um Wolken und Wasser geht, Müllabfuhr und Demonstrationen, Tempel und Götter, Brücken, Flüsse und Meere – jede Betrachtung beleuchtet eine Facette dieser fragilen Insel entlang der Bruchlinien des Alltags.
Alice Grünfelder
Notizen aus einem bedrohten Land
»Linien«, »Qu Yuan« und »Shilin« wurden als »Postkarten aus Taiwan« 2020 auf der Website literaturblatt.chveröffentlicht. »Obdachlose« erschien im Juli 2020 in gekürzter Form in der Zeitschrift surprise unter dem Titel »Im Verborgenen. Soziale Stadtrundgänge in Taibei«, »Tee« 2021 auf der Website »Annes Topfgeflüster« und »Zeichen« im November 2020 in kürzerer Form in der Zeitschrift Wespennest unter dem Titel »Chinesisch (Wieder-)Erlernen«. Alle Texte wurden für dieses Buch bearbeitet.
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
© 2022 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
Umschlag: Jilong 2017, Foto von Sean Pavone / Alamy Stock Foto
Korrektorat: Jürg Fischer
eISBN 978-3-85869-951-0
1. Auflage 2022
Das gedruckte Buch enthält zwei Übersichtskarten.
A wie
Abschied
Abfall
Ahnung
Alishan
Die Alten
Ankommen
Armut
B wie
Bäckerei
Bange
Bedrohung
Beitou
Brücken
Buchhandlungen
C wie
Corona
Nach Corona
Chrysanthemen
D wie
Drachenboot
E wie
Ehebruch
Eier
Erdbeben
Erdbeeren
Extrem
F wie
Fahrradfahren
Farbenlehre
Fliegen
Der Fluss
Frieden
G wie
Gehen
Gewöhnung
Gleichberechtigung
Götter
Graffiti
H wie
Hengchun
Hunde
I wie
Inseln
J wie
Jade
Jazz
Jiantan
Jiaozi
K wie
Karaoke
Kassenzettel
Klima
Krieg
Küste
L wie
Licht
Linien
Lotos
M wie
Machangding
Maokong
Meer
Morgen
Mütter
N wie
Nichttun
Notfall
Nylon Cheng
O wie
Obdachlose
P wie
Pazifik
Perspektiven
Biji, Pinselnotizen
Power to the People
Prothesen
Q wie
Qigong
Qu Yuan
R wie
Regen
Ruhe
S wie
Schildkröte
Schnecken
Schreiben
Shilin
Sicherheit
Soong Mei-ling
Straßen
T wie
Der Tag
Tanzen
Tee
Tempel
Aus Ton
Trostfrauen
U wie
Übersetzen
Unabhängigkeit
Untergrund
V wie
Vergleichen
Verkehr
Vogel
W wie
Wahrsager
Wanhua
Weißer Terror
Wetter
X wie
Xiaoyoukang
Y wie
Yip Man
Z wie
2-28
Zeit
Zeichen
Anhang
Anmerkungen
Literatur zu Taiwan
Chronik
Dank
Über die Autorin
Wie verabschiedet man sich von einem Land, das es nicht gibt? Zumindest nicht offiziell? Das Auswärtige Amt Deutschlands hisste eine Zeit lang auf seiner Website da, wo einst die taiwanische Nationalflagge hing, die weiße Fahne; andere Länderregierungen und internationale Institutionen winden sich so lange um eine Benennung, dass niemand sich darunter etwas vorstellen kann – Provinz China, Taipei und seine Umgebung (WHO) oder wie die diplomatischen Fantasienamen lauten. In den allermeisten Fällen wird Taiwan noch nicht einmal als eigenes Land gelistet. Fluglinien und Hotelketten werden von der Regierung in Peking abgemahnt, wenn sie Taiwan als eigenständige Destination ausweisen. Einer Bekannten war 2018 sowohl vom Straßenverkehrsamt in Zürich als auch von ihrer Versicherung die Nationalität aberkannt worden, weil von der Regierung in Peking offenbar ein Schreiben an sämtliche Länder gegangen war, wonach Taiwan als eigenständiges Land zu löschen und durch China zu ersetzen sei – Taiwan war kurzzeitig nicht mehr im System zu finden, der Angestellte ratlos.
Taiwan ist isoliert, im Notfall ist es allein auf sich gestellt. Was macht das mit den Menschen, war eine der Fragen, die ich mir stellte, bevor ich 2020 für sechs Monate nach Taiwan reiste. Verharren sie in Angst, erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange? Sind sie in permanenter Unruhe? Oder lehrt sie der seit Generationen antrainierte Pragmatismus, das Leben zu nehmen, wie es ist? Nichts scheint ihnen wertvoller als Sicherheit und Stabilität, erst recht in einem Land, wo der Boden beständig bebt und Gefahr vom Himmel droht. Das ist womöglich die einzige Konstante im Leben der Taiwaner: Sich mit den Unwägbarkeiten so gut es eben geht zu arrangieren, scheint wie eingebrannt in ihr Wesen. Es ist eben so, unabänderlich, sinnlos, sich deshalb allzu sehr zu grämen.
Ist es so, fragte ich mich? Oder ist es anders?
Meine letzte Woche in Taiwan ist angebrochen. Und kalt erwischt mich die Frage: Also hast du nun sechs Monate lang Urlaub gemacht? Nein, schon nicht, aber was dann? Es gab keinen Tag, an dem ich nicht am Schreibtisch saß. Und? Hast du geschrieben? Bist du vorangekommen? – Ja, nein, besser als ich dachte, aber eigentlich nicht, oder vielleicht? Die ersten beiden Monate ließ mir ein Intensivkurs Chinesisch keine Zeit, an irgendetwas anderes zu denken. Danach übersetzte ich Gedichte von taiwanischen Lyrikerinnen, las wissenschaftliche Texte über Chinas Situation während des Ersten Weltkriegs und paraphrasierte zwei chinesische Tagebücher aus dieser Zeit, schrieb an einem Roman.
Ich unterhielt mich ausführlich mit den Menschen, vor allem Frauen, über Taiwan, ging durch Straßen, entdeckte bei jeder U-Bahn-Station eine andere Welt. Bis zum letzten Tag staune ich darüber: Auch wenn ich nicht schreibe, bin ich ein Notizbuch. So sagte es einmal der Aargauer Lyriker Klaus Merz.
Ich muss Abschied nehmen von Jiantan und dem Hügel gleich hinter meiner U-Bahn-Station, auf den ich gerne viel öfter gestiegen wäre, weil die verwunschenen Plätze, ausrangierten Fitnessgeräte in verlassenen Tempeln, auf den Boden gemalten Badmintonfelder unter tropisch wucherndem Palmengewächs und eine sich ständig wandelnde Aussicht auf die Stadt mich ver-rückt haben. Ich schreibe »wäre«, weil ich nur zweimal dort oben gewesen bin. Beide Male attackierten mich die Moskitos auf unerträgliche Weise, und beim zweiten Mal griff mich ein wilder Hund an, obwohl es, so meine Sprachlehrerin, in Taipei doch gar keine wilden Hunde gebe.
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