Dennoch sterben 2020 Menschen bei einer Übung im Vorfeld des einwöchigen Han-Kuang-Militärmanövers. Auf rauer See kentert ein Schlauchboot, zwei Soldaten bekommen zu viel Wasser in die Lungen und ertrinken; der verantwortliche Offizier nimmt sich daraufhin das Leben. Und das Manöver endet mit einem Hubschrauberabsturz, bei dem nochmals zwei Soldaten ihr Leben verlieren. 10
Überhaupt scheint die Ausstattung des Militärs in einem beklagenswerten Zustand zu sein. Soldaten sollen beispielsweise dazu angehalten worden sein, Ersatzteile aus eigener Tasche zu bezahlen. 11
Auch die USA monieren die Ausstattung der taiwanesischen Armee und treiben die Regierung zu immer mehr Waffenkäufen an. Je nachdem, wie hoch das alljährliche Militärbudget ausfallen solle, redeten die Falken in den USA die Gefahr groß, schreibt der Blogger Brian Hioe. Sie verdienten an den lukrativen Waffengeschäften mit. Doch werden die USA Taiwan im Notfall wirklich unterstützen? Ist es nicht womöglich unvernünftig und blauäugig, vor allem auf militärische Verteidigung zu setzen? Der Abzug der USA aus Afghanistan und die Folgen rufen in Taiwan stille Bestürzung hervor. Man vergleicht die Situation dort mit der eigenen. 12
In der westlichen Berichterstattung werden die Verletzungen des chinesischen Luftraums durch das US-amerikanische Militär indes kaum erwähnt. Seit zwei Jahrzehnten folgen die USA der Obsession, nach dem Kalten Krieg nun die chinesische Gefahr heraufzubeschwören – um die Militärausgaben aufzublähen, analysiert eine französische Journalistin. 13
Und dass Taiwan nach 1949 unter Chiang Kai-shek jahrzehntelang drohte, das Festland anzugreifen, scheint der westlichen Amnesie zum Opfer gefallen zu sein.
Meinungen, Analysen, Umfragen, die sich widersprechen und im Widerspruch gegenseitig hochschaukeln.
So geht es auch nicht.
Schon vor Jahren hat der Krieg an einer ganz anderen Front begonnen. Taiwan ist das Land, das die meisten Cyber-Angriffe zu gewärtigen hat, das von einem Fake-News-Tsunami überschwemmt wird. Um dem zu begegnen, ernannte die Präsidentin Tsai Ing-wen Audrey Tang, den früheren Hacker Autrijus Tang, zur Digitalministerin. Fake News kontert diese unter anderem mit »Humor«, beauftragt Komiker mit Berichtigungen, die gerade in den sozialen Medien für Lacher und Aufmerksamkeit sorgen – und Stoff für meinem Sprachunterricht bieten. 14Aus denselben Gründen hat die Regierung entschieden, dass ab 2022 Behörden keinerlei Elektronik mehr aus China verwenden dürfen; ursprünglich war geplant, eine Liste mit den Namen der zu boykottierenden chinesischen Firmen zu veröffentlichen, was aber aufgrund der schieren Anzahl nicht mehr machbar sei. 15
Laut westlicher Berichterstattung spitzt sich 2021 die Lage weiter zu. Regelmäßig frage ich bei meinen Freunden in Taiwan nach, wie schlimm es dieses Mal ist. Jedes Mal sagen sie: »Wie immer. Sorge dich nicht, uns geht es gut!« Aber ich mache mir Sorgen. Es beruhigt mich nicht zu lesen, die chinesische Armee könne nicht so schnell so viele Truppen verlagern oder Taiwan sei nur an wenigen Küstenabschnitten angreifbar.
Ich fürchte, die Strategie, so lange zu drohen, bis sich der Westen an diesen erwartbaren Angriff gewöhnt hat und deshalb nicht oder nur schwerfällig reagieren würde, ist klug. Gleichzeitig soll das hingehaltene taiwanische Volk mit Nadelstichen zermürbt werden.
Einzelne werden sich in die Berge und Wälder zurückziehen, von wo aus die Inselbewohner noch jedem begehrlichen Eroberer die Stirn zu bieten versuchten. Was passiert, wenn Taiwan und die USA auf einen Guerillakampf in unterirdischen Gängen setzen, Reservisten im Häuserkampf ausbilden, unter Stränden Tunnel anlegen und mit Sprengstoff füllen? 16
Im Jahr 2021 nahmen die Bedrohungen jedenfalls weiter zu, Medien sprechen von den schlimmsten Spannungen seit der Krise 1996, als Chinas Raketen vor der Küste Taiwans einschlugen. 2021 drangen so viel Militärflugzeuge wie nie zuvor in Taiwans Identifikationszone zur Luftverteidigung ein. 17
Welche Behörden, welche Organisationen wären im Falle eines Falles zu kontaktieren? Auf welchem Weg könnten Bekannte und Freunde vor dem Inferno gerettet werden? Wie könnte man ihnen nach einer Invasion helfen? Fragen ziehen sich manchmal wie Schleier vor die Nachrichten aus Taiwan.
»Sorge dich nicht, es geht uns gut, es ist wie immer, früher war es einmal schlimmer.« Dieser Refrain beruhigt mich nicht wirklich. Sehen die Menschen die Gefahr nicht? Sehe nur ich, sehen nur wir im Westen sie, weil sie aus geopolitischen Interessen heraufbeschworen wird? Sollte ich tatsächlich auf die Widerstandskraft der Taiwaner vertrauen? Meine Zweifel und Fragen finde ich in den Zeilen der Kurzgeschichte »The old capital« der Autorin Chu T’ienhsin wieder:
Du gehörtest zu jenen, die glaubten, jeden Moment könne ein Krieg ausbrechen, hattest aber keine Angst.
Es gab aber auch noch andere Menschen, die glaubten, der Krieg käme, und die mächtig Angst hatten.
Und jene, die glaubten, es gäbe keinen Krieg und deshalb auch keine Angst hatten.
Aber auch jene, die nicht an einen Krieg glaubten und dennoch Angst hatten.
Du hattest keine Angst, weil dir schon früh klar war, dass man als einzelne Person nur wenig ausrichten kann. 18
In Beitou steige ich um nach Xinbeitou, ins »neue Beitou«, bekannt für seine heißen Quellen, ein Museum und einige architektonische Sehenswürdigkeiten. An einem meiner letzten Tage in Taiwan fahre ich hin.
Schon am Bahnhof steht ein historischer Brunnen, der mir wegen seiner bescheidenen Zurückhaltung unter einem Bambusdach auffällt. Im Wasser sehe ich kleine hochkant gestellte Holzlatten, vom Wasser umspült. Neben mir steht ein stämmiger Mann, der genauso ratlos wie ich zu sein scheint. Vielleicht empfindet er das Wasser, in das wir gleichzeitig unsere Finger strecken, als ebenso grenzwertig heiß? Beide verziehen wir aber keine Miene, schauen ins Wasser und unseren Fingern zu. Es tut fast weh, also muss es wohl gesund sein.
Am Bach entlang gehe ich durch einen Park, dahinter Hochhäuser und Wohnblocks, davor zahlreiche luxuriöse und auch ein wenig gräuliche Badehotels. Auf Schildern wird dafür geworben, sich hier stundenweise einzumieten. Etwas Anrüchiges liegt in der Luft, Männer in protzigen Autos lassen Motoren aufheulen, nur wenige Menschen sehe ich auf der Straße.
Vielleicht bin ich auch nur voreingenommen, weil ich zuvor die Geschichte des Badeortes überflogen habe. Die Japaner hatten es sich während ihrer kolonialen Besetzung der Insel von 1885 bis 1945 in Xinbeitou gemütlich gemacht, eine Bahnlinie angelegt, um die heißen Schwefelquellen Hotels errichtet, der Bädertourismus boomte. Und als die neuen Herrscher Ende der fünfziger Jahre vom Festland nach Taiwan flohen, florierte die Prostitution erst recht.
Die Bibliothek am schmalen Beitou-Flüsschen ist so gelegen, dass man sich keinen besseren Ort mehr für eine Bibliothek vorstellen möchte. Der Bau schwingt sich auf drei Etagen in die Höhe und schmiegt sich an den Fluss. Einladend sind die einzelnen Schreibtische oder auch Sitzgruppen aufgestellt, der Raum ist licht, die Atmosphäre entspannt. Das nächste Mal, so träume ich vor mich hin, werde ich hierherkommen, und es würde sich wie von selbst schreiben.
Die weiträumige Tatami-Lounge im Hot Spring Museum wirkt freundlicher als die Museumsangestellten, die mir gleich hinter dem Eingang ein Paar ausgetretene Filzschlappen vor die Füße werfen. Das alte gekachelte Becken im Erdgeschoss, die Kargheit der Badehalle, ausgetretene Fließen, Kuhlen in Brüstungen – die Räumlichkeiten sind so, wie man es von einem Thermalbad erwartet. Dann entdecke ich das Becken für Frauen, es ist winzig klein. Vergeblich suche ich eine Erklärung. Die historischen Erläuterungen auf den kleinen Schildern erschöpfen sich sowieso bald, kein Wunder angesichts der doch nur kurzen hundertjährigen Geschichte des Badeorts.
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