Ich habe zu wenig Fantasie, um mir vorstellen zu können, wie es ist, nicht mehr hier zu sein. Zu oft dieses »zum letzten Mal«. Seit Tagen stecke ich in einer Melancholie und heute an meinem letzten Tag erst recht – als sei das Weggehen ein Abschied aus einem Leben. Wie wird es sein, mich wieder in den Alltag fügen zu müssen? In meinen Notizen so viel Mikrokosmos, so viele Details, so viel Kleines im Großen. Wie sortiere ich es, füge es zusammen, mache meine Erlebnisse zugänglich für andere? »Die Gedanken zur Erinnerung vernähen«, schreibt die Theaterwissenschaftlerin Freda Fiala in ihrem Langpoem über Taipei. 1Mehr nicht. Oder durchs Schreiben einkapseln. Mehr nicht.
Glück ist, wenn sich abends die Müllabfuhr mit Beethovens »Für Elise« oder Badarzewska-Baranowskas »Gebet einer Jungfrau« ankündigt. Es klingt, als käme der Eisverkäufer. Und plötzlich hebt ein Türenschlagen und Getrappel an, alle Bewohner laufen auf die Straße, um ihren Abfall loszuwerden. Nur dann, sagt Yen-fang, eine meiner beiden Mitbewohnerinnen, bekommt man seine Nachbarn zu Gesicht. Jedenfalls sind sonst nie so viele Menschen auf der Straße, wie wenn die Müllwagen kommen.
In den neunziger Jahren führte die Stadtregierung Taipeis diese Abfallentsorgung ein, weil der Gestank im subtropischen Klima unerträglich war, sich Ratten und Ungeziefer über die Abfallsäcke hermachten und zu einer Plage wurden. Seither wird sauber entsorgt und gründlich recycelt. Vor den Abfallwagen stehen Arbeiter, die einem Glas, Papier und Plastikflaschen abnehmen. Müll sieht man auf Taipeis Straßen kaum, Abfalleimer sind selten, illegales Müllabladen ist strafbar. Einmal sah ich ein Schild, auf dem sogar die Götter mit Missachtung drohen, sollte hier jemand seinen Abfall abstellen.
Mittlerweile weiß ich, wenn der Müllwagen vorn beim Park »Für Elise« spielt, ist es etwa sieben Uhr. Wenn ich den nicht schaffe, kann ich den Müll beim Wagen mit »A Maiden’s Prayer« bei uns in der Straße um 20 Uhr 40 abgeben, fast auf die Minute pünktlich. Und doch wird man Abend für Abend überrascht, weil man gerade mitten in einem Satz, einem Gedanken, einem Telefonat oder was auch immer steckt.
Da diese beiden Melodien niemand mehr hören kann, hat die Stadtverwaltung neue einführen wollen, prompt riefen Bürger an und protestierten: Wo der Müllwagen denn bleibe? Nun habe man versäumt, den Müll zu entsorgen, weil man die neue Melodie nicht dem Müllwagen zuordnen könne! Her mit der alten Melodie! So erzählt es Yen-fang. Deshalb habe man es bei »Elise« und der »Jungfrau« belassen.
Manchmal stehe ich irgendwo oder bewege mich durch die Stadt mit dem Gefühl der Spannung, als berge dieses Land, diese Insel unzählige Möglichkeiten, tief unten in ihrem Felsensockel, umgeben von Meer, unter den Straßen, in den gezackten Tälern. Selbst beim Blick über den Fluss oder hinunter vom Balkon auf die Straße spüre ich die Spannung.
Als sei dies erst ein Anfang, ein Gemisch aus Erinnerungen und Ahnungen, als sei hier eine Zukunft möglich, als sei hier etwas möglich, von dem ich nur noch nichts weiß. Ein vertrautes Gefühl indes. Es erinnert mich nicht an Chengdu damals, sondern rührt an etwas tief in mir, das dort schon immer war und nun angestoßen wird.
Das warme Wetter trägt zu dieser Stimmung bei, weil ich es liebe, wenn am Ende des Tages der laue Wind in der Abenddämmerung über meine Arme streift, voll sinnlicher Vertrautheit. Seltsam, dass ich Erinnerung denke, sich aber kein Bild dazu einstellt. Es ist nurmehr eine Ahnung von etwas, was meinen Körper erbeben lässt.
Jahrtausendealte rote Zedern stehen im lichten Wald, der Waldboden von Farn bedeckt. Staunend gleitet mein Blick am Stamm entlang nach oben, wo er sich teilt. Selbst auf den Ästen spreizt sich der Farn.
Seit ich Alishan besucht habe, bin ich im Baumfieber, empfänglicher auch für den heimischen Wald, für Baumrinden, ihre Schatten und Furchen, die Flechten wie Schuppen, das Totholz auf feuchtem Waldgrund und das Efeu, das Äste zu Tode umarmt. Bei Marion Poschmann lese ich: »Insofern handelt es sich um mehr als einen Ausflug. Unvermeidlich findet auf einer solchen Tour eine Sensibilisierung statt.« 2Doch wie geht das Schreiben darüber? Anders als die Malerei verfüge die Sprache über keine Technik, um die Welt der Bäume nuanciert zu beschreiben, bedauert Marion Poschmann. Die Sprache kenne nur Wiederholungen, eine Wurzel, ein Stamm, Blätter; es sind nur geringfügige Modifikationen möglich. Meine Versuche, die alten Zedern zu beschreiben, werden ihnen nicht gerecht; mir gehen die Wörter aus.
Höre ich Emily, meine Verlegerfreundin, über die Zedern sprechen, merke ich, dass ihr die Bäume etwas anderes bedeuten. Für mich bilden sie vorerst eine stimmungsvolle Kulisse. Doch die Menschen hier gehen fast andächtig über Holzstege, einen halben Meter über dem Waldboden. Warum gibt es diese Stege? Traut man dem Waldboden nicht? Ist der Spaziergang durch den lichten Wald so vielleicht einfacher, kein Stolpern über Wurzeln? Ist die Natur so ungestörter? Ehrfürchtig schauen die Menschen hinauf in die ausgedünnten Wipfel. Reicht es womöglich, die Zeder aufzurufen, um eine bestimmte Gefühlswelt heraufzubeschwören?
Dieser Wald, seine Bäume erzählen Geschichten. Alishan war einst ein Ort der Zuflucht. Als die Japaner 1895 kamen, flohen viele Taiwaner vor ihnen in die Berge. Nach dem Aufstand vom 28. Februar 1947 war anderswo kein Untertauchen mehr möglich. So liest es sich in der Erzählung »Flucht in die Berge« des Hakka-Schriftstellers Lee Chiao. 3Nachdem alle Kameraden verhaftet und einige auch getötet wurden, bleibt nur noch die Hauptperson übrig. Doch Spitzel lauern überall, verfolgen ihn in die Wälder und Berge. Der Flüchtende stirbt jedoch nicht durch die Kugel seines Verfolgers, sondern beide kommen durch den Biss einer Giftschlange zu Tode.
Auch heute noch sterben in diesem Wald Menschen. Es sind sogenannte Baumräuber; shān lăoshū , Bergratten, werden sie genannt. Man sieht sie nicht. Diese Menschen wurden, wie viele andere vor ihnen, in die Berge geschickt, um Bäume zu fällen, des Geldes wegen. Schon die Japaner hatten Wohlgefallen am Wuchs und Aroma der Zedern gefunden, nannten sie hinoki und fällten sie. Die Nationalpartei Kuomintang (KMT) übernahm das Geschäft, denn es versprach Profit, bis nur noch wenige Baumriesen standen. 1991 wurde endlich das Fällen in sämtlichen Urwäldern Taiwans verboten. 4
Für Hoang, einen illegalen Einwanderer aus Vietnam, reichte 2018 das Geld in den Fabriken nicht, um zu Hause die Familie zu ernähren und die Schulden bei den Schleusern zu bezahlen. Er ging in den Süden, arbeitete auf Teefeldern, später für Gangs, die heimlich die alten Zedern fällen. Gefängnisstrafen bis zu zwanzig Jahren drohen den Holzdieben, deshalb wohl rannte Hoang bei seiner Verhaftung in den Wald, dem er sein Einkommen verdankte, was er mit dem Leben bezahlte. Er verblutete an einem Schuss in die Stirn, den Polizisten auf ihn abgefeuert hatten. Sein Bruder fand ihn fünf Tage später tot im Wald. 5
Das Holz, das stückweise aus dem Wald geholt wird, damit die Dieberei nicht auffällt, wird von den Souvenirhändlern in Sanyi gern gekauft. Aus ihm wird geschnitzt, was Touristen gefällt, was Glück bringt, Buddhastatuen und Äpfel zum Beispiel. Das ist auch für die Ladenbesitzer gefährlich; für den Kauf von illegal gefälltem Holz drohen ihnen Strafen zwischen achtzehn Monaten und fünf Jahren. 6
Doch einem jungen Holzkünstler will es gleich sein, woher sein Holz kommt. Er fragt nicht, sie sagen es nicht, doch dass es von den Baumratten ist, wissen alle. Er weiß um die Strafe, aber der Profit mit den Holzschnitzereien ist zu verlockend.
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