Jiantan (»Schwertsee«), meine U-Bahn-Station, Shilin (»Gelehrtenviertel«) und die Straße Hefeng (»moderater Reichtum«), in der ich wohne, sind wie ein Dorf in der Stadt. Manchmal, wenn ich morgens beim Frühstück saß mit dem Blick hinaus in ein undefinierbares Licht, sang eine Frauenstimme. Es war stets dieselbe Melodie. Ich verstand nicht, was sie sang. Aber ihre Stimme, das Lied schien endlos zu sein, unerschöpflich das Liebesleid, die Sehnsucht nach einem fernen Glück; im Hintergrund setzte eine Flöte leise Tupfen. Und darüber legten sich die Bilder aus Chengdu von vor mehr als zwanzig Jahren, wo ich als Studentin für zwei Jahre lebte, die Geräusche von damals, wenn der Fahrradmechaniker vorm Haus auf das Blech klopfte.
Ein kleiner Tempel hier im Park ist mein liebster Ort. Ich holte mir einen Kaffee in einem Supermarkt, in dessen Hintergrund nicht etwa ausgeleierte Schlager, wie ich es aus Deutschland und der Schweiz kenne, sondern Free Jazz lief, sodass ich allein schon deswegen immer nur dort einkaufte. Setzte mich mit dem Kaffee in den Park neben den Tempel und sah den alten Männern beim Schachspiel zu. Hörte Stimmen, die mal lauter, mal leiser wurden, verstummten, Schritte vorüberschlurfen, Wortfetzen und Kinderjauchzen, Motorroller und leise buddhistische Litaneien aus dem Lautsprecher.
Da, wo ich wohne und jetzt diese Zeilen schreibe, gibt es um die Ecke einen 10’000 Jahre alten Tempel. 10’000, wàn , ist eine runde Zahl, die alles und nichts bedeuten kann, niemals aber wörtlich zu nehmen ist, lediglich eine lange Zeitspanne meint. Der kleine Tempel ist dem Erdgott gewidmet, in dem für die Vorfahren und die Nachkommen gebetet wird. Weil hier einmal viele Menschenknochen gefunden wurden, hat man darüber den Tempel errichtet. Etwas weiter in derselben Straße steht ein Tiertempel, den ich für mich so nenne, weil dort Tiere in viel zu kleine Käfige gesperrt sind. Unten am Ufer des Flusses, zu Fuß nur fünf Minuten entfernt, ist der Flussgotttempel, dessen Hydraulik das kleine Gebäude bei einem Taifun mit Hochwasser in die Höhe hievt.
Habe ich in den ersten Wochen gern zum Frühstück gedämpfte Teigtäschchen gegessen oder frittierte Teigstangen in Sojamilch getunkt, so ist es dafür schon seit Wochen zu heiß. Statt warmer Nudeln gibt es nun kalte. Der Tofuladen mit seinem Grünbohnentofu füllt einen Becher nach dem anderen, zum Schluss kommen noch ein paar Eisklümpchen oben drauf. Nur wenn es regne, laufe das Geschäft schlecht, sagt der stämmige Verkäufer. Nicht einmal Corona habe seinem Laden geschadet. Tatsächlich waren im Februar, als ich hierher zog, viel mehr Geschäfte geschlossen, im März und April noch mehr, bis dann im Mai plötzlich Türen aufgingen, die ich all die Wochen zuvor nicht einmal bemerkt hatte, weil sowieso alle Türen mit Motorrollern und sonstigen Fahrzeugen zugestellt sind. Zum Beispiel das Recreation Center, geschmackvoll eingerichtet mit Bücherregalen, bequemen Sofas, einfach so, um sich zwischendurch auszuruhen, finanziert von der Stadt. Oder die Nachbarschaftshilfe, die in Quarantänezeiten dafür zuständig ist, dass die Leute mit den notwendigsten Nahrungsmitteln versorgt werden. Ein Schreibwarengeschäft, ein Hot-Pot-Restaurant. Dafür schloss zur selben Zeit plötzlich das Café an der Ecke. Dann wieder war die Hälfte der Läden geschlossen, weil das Drachenbootfestival im Juni gefeiert wurde.
Abschied nehmen heißt es von den kleinen Dingen im Alltag. Der Architekturkritiker Vittorio Lampugnani nennt sie Objekte des Stadtraums, die benutzt, nicht ausgestellt werden und eigene Geschichten erzählen. Tatsächlich stellt sich Taiwan und auch Taipei an nur wenigen Orten selbst aus, verspürt offenbar selten den Drang, sich in Architektur, in pompös angelegten Plätzen und Boulevards zu repräsentieren, wenngleich das nicht immer so war. Die Chiang-Kai-shek-Gedenkhalle ist trotz der historischen Assoziationen, die man mit diesem einstigen erbitterten Gegner Mao Zedongs und späteren Alleinherrscher Taiwans verbindet, eindrucksvoll, vor allem nachts, wenn sich junge Menschen unter den Dächern zwischen den roten Säulen des Nationaltheaters und der Philharmonie treffen, um zu neuesten Rhythmen anspruchsvolle Choreografien einzuüben. Oder wenn das blaue Ziegeldach der Gedenkhalle in einer Vollmondnacht aufscheint, dahinter das höchste Gebäude der Stadt, das Taipei 101. Oder gegenüber das marmorglänzende Tor der »Großen Mitte und Aufrichtigkeit«. Sind es Heterotopien nach Michel Foucault, Orte, die in die Gesellschaft eingeschrieben und heute trotz ihrer erdrückenden Geschichte in den Alltag integriert sind, als hätte der, dem die Gedenkhalle gewidmet ist, nie ein Volk in einer vierzig Jahre andauernden Militärdiktatur darben lassen? Die Vereinnahme durch jugendliche Tänzer und mittelalte Schattenboxer ist eine Umwidmung des Ortes, die mich bei jedem Besuch von Neuem fasziniert.
Es gibt noch etliche Gebäude aus der Qing-Zeit, aus der Kolonialzeit der Japaner, von Holländern, Spaniern und Portugiesen erbaute Häuser, zum Teil in Ruinen, die in der modernen Stadt einfach nur dastehen, architektonisch kaum in die Stadtplanung einbezogen. Immer wieder wurde ich auf die Dihua-Straße hingewiesen mit den Handelshäusern aus der japanischen Zeit. Sie hat durchaus Charme, doch die Gegend wurde von der Tourismusindustrie längst in Beschlag genommen. Ausgerechnet dort fand ich per Zufall ein Museum über die taiwanischen Komfortfrauen während des Zweiten Weltkriegs – noch nie hatte ich davon gehört, dass auch die Frauen in Taiwan dem »Komfort« japanischer Soldaten dienen mussten. Ich war überrascht, überrascht aber auch über meine Ignoranz.
Spannender, als die Stadt und ihre Touristenattraktionen zu besuchen und ihr dadurch, so mein Eindruck, keinen Meter näherzukommen, war es, einzelne Viertel abzugehen. So konzentrierte ich mich in Taipei auf wenige Ecken, die ich wieder und wieder aufsuchte, wie beispielsweise den 2-28-Park zum Gedenken der Opfer des Aufstands vom 28. Februar 1947. Damals erhob sich das Volk gegen die Herrschaft der Kuomintang-Regierung, woraufhin die Militärdiktatur ihren Anfang nahm.
Nach dem Vorbild der Peripatetiker ging ich durch die Stadt, wusste um die Bedeutung der Orte und verfolgte Spuren von Menschen damals wie heute, ging ihren Gedanken nach, verband sie mit den eigenen, sodass der Gang durch die Stadt und der Gedankengang irgendwann eins wurden. So taste ich am letzten Tag diesen Ort geografisch ab, lasse an ihm meine Erinnerungen entzünden.
Ich nehme Abschied von der Verkäuferin im Laden unten im vierstöckigen Haus, in dem ich in den vergangenen sechs Monaten gelebt, gelernt, geschrieben, Notizen gemacht habe. Das Haus gehört der Armee, und nur zwei Wohnungen sind bewohnt. In den anderen hausen die Geister, sagte ich einmal, wurde dafür aber von meinen beiden Mitbewohnerinnen groß angeschaut – »Woher ich das wisse?« Kein Volk sei wohl abergläubischer als das taiwanische, sagte ich lachend. Weil wir am nächsten Tag einen Butterzopf backen wollten, behauptete ich, dass man zwar Mehl, Ei und Hefe brauche für einen Zopf, dass es aber auch nicht donnern und gewittern dürfe, sonst gehe der Hefeteig nicht auf. Der erste Versuch misslang, die Hefe war zu alt, das Wetter zu heiß, wir wussten es nicht. Wir versuchten es noch einmal, und der zweite Butterzopf wurde per WhatsApp in der Welt herumgereicht.
Ich weiß nicht, was für ein Abschied das werden wird. Einer auf Raten, ein letzter Blick auf alles, gefüllt mit Schwermut, einer vorweggenommenen Wehmut? Wann saß ich das letzte Mal einfach so in einem Park und sah Menschen beim Leben zu? Wann werde ich es das nächste Mal tun? Oder an einem Fluss sitzen, an dem abends die Menschen den Tag ausklingen lassen? Wie oft bin ich am Jilong entlanggegangen, im Februar, März, April, bei heftigen Regenfällen, ungewiss, was diese Zeit bringen wird, was ich mit ihr anstelle. Vieles war in den ersten Monaten in der Schwebe, ein Leben auf Abruf, das jederzeit widerrufen werden konnte, weil niemand wusste, welche Veränderungen administrativer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Art dieser Virus noch mit sich bringen würde. Im Mai, Juni und Juli ein Aufblühen, nicht nur der Menschen, die sich wieder hinaustrauten. Clubs, Ausstellungen, selbst das Wetter schien sich allmählich wieder zu öffnen. Über solche Dinge sann ich nach bei meinem letzten Gang dem Fluss entlang. Ich kam vom Museum für Moderne Kunst und ging zum Sanjiaodu, der dreibeinigen Furt, wo einst ein Flussarm zugeschüttet wurde, wovon heute nur noch der Name etwas weiß, wo ich viele frühe Morgenstunden Drachenboot paddelte.
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