Monika aber sitzt jetzt jedenfalls neben, wickelt den Jungen ein übers Knie, und ihr Blick ist der eines Sieges von heute – oder wenigstens „wie“, wenigstens „dicht“. „Soll die Zeit ruhig rollen und spielen.“ – Aber noch ist Moskau nicht da, und Rückkehr fädelt Nadeln in Öhre, dringt durch wie gesiebt. Monika ist die Brücke schon einmal gelaufen, nicht fremd und von der Erde – wer weiß schon wohin? – in ihre Augen zurück:
klar, ohne Wolken, blau, deutschblau, mit Wasser am Rand und dem Wissen vom Ich: „Ich sehe mich tief, fleißig und zornmütig gar – vorher und nachher aber gemütlich.“ – Auch Petra hat dieses Reine, ähnelt ihr, und Monika wiederum ähnelt denen, die er gekannt, ist ein wenig heller, fahlgelber bloß und dazu mit einem Polster aus Herz. Sarodnicks Mutter dagegen hat die braunen, die so auch seine Augen geworden. Der Sohn aber sucht in dem Blau, in den Flecken Metall-Spiegel und glatt wie gefallen. Verflacht seine Kindheit darin? „Petra, Monika – sind sie gleich wie zwei Augen?“ – Sein Mund formt sich zur Klage, hat eine Absicht bewirkt, und die Hände des Mädchens binden sich zart, sie lindern Bescheid. –
In Halle, um Liebfrauen und Händelaltar, wo Bettina von Arnim zwischen zwei Männern entschied, traf Sarodnick dieses Mädchen zum nächsten Mal wieder. Denn vorher war Leipzig – die gleiche Universität, die Korridore, die um das Gleiche sich wanden. Doch es war damals bloß ein flüchtiges Sehen darüber, ein Fluchtsehen nur. Der schale Kaffee an verschiedenen Tischen, und ein Lächeln war ungezählt nichts – eine nichtgezählte Begegnung. Da in Halle freilich zählte es plötzlich schon, und grundlos fand sich der Anlass: „Du hier?“ Sie hatten den Flirt – ein Dutzend von Tagen. In der Stimmung lag Grund, der Zubereitung beließ: das Studium vor Moskau, das Ausrichten, das Gleichrichten für mehr und mit staatlichen Richtern als Beilage zu, die sich spiegelgleich glichen, das Konzept in der Hand, und mit dem sie Zweifel zerhieben in Bande. Begeisterung und etwas Entgeisterung blieb. Die Halbtausend wachsenden Kinder spürten – wenn sie nicht lange schon ahnten! –, warum sie gerufen, wozu dieser Trab: Man baute die Fronten, gab ein Erlauben in Ehre fanfarig, und das Band sprach bis zum Ostbahnhof Bände, war breitstirnig dort um die Wagen gerollt.
Natürlich war für Monika alles weniger voll und aufregungsgeladen. Sie stand in den Dingen, hatte ihr Studium schon weg und hängte ein Jahr nur hinzu. „Es werden verlängerte Ferien für sie“, dachte Martin und kratzte am Bein: „Fünf Jahre dagegen für mich.“ – Fünf Jahre sprechen und schreiben in einer Sprache, die sich nicht gibt, mit der ihn höchstens Grammatik verband. Es war nicht seine eigene Sache. „Ich sollte mich an Monika halten, am nützlichen Bier.“
Steht sie nicht immer noch unter dem Torbogen im Vorgestern-Halle?
Sarodnick hatte das Gas heulen lassen vom Krad, und die Radspur schabte im Moos, gassengerecht, an den Freistellen fürs Wohnen, fürs Grade-noch-Wohnen, fürs Neuwohnen in der Nichtmöglichkeit.
Monika hielt – die Erfahrung bei sich – , hielt aus bis „unmöglich“, bis zum Sturz ab gegen den Zaun, und sie wusste, dass das Motorrad nicht das erste Mal fiel und noch weitere Male wird werfen – bis zu dem Umsturz mit Petra am Meer.
„Wann wirst du bloß klüger?“, sagte sie und hatte sich das Bein nur gerieben. „Klüger ist Klugscheiß“, antwortete Sarodnick und schlug sich auf seine Knochen. – War sie verliebt? War sie angezogen vom Lärm, von dem Drumherum um die Kunst, die wie ein Brei in ihm wärmte? Wie gern hätte sie auch dort selber gekocht! War sie verliebt in das Fach von dem Jungen? Vielleicht. Auch jetzt. Und später?
In Halle, am letzten Tag tanzten sie auf dem Ball, den Schlusstanz zusammen – einen Tanz ohne Schlüsse: Monika hatte so lange gewartet auf ihn. Gekleidet als Fest, mit einer gefiederten Brosche am Schnitt, das weiße Haar in den Nacken gestrengt, zogen tief ihre Winkel im Mund und liehen ihr Unnähe, Unweiche und Stolz: „Er hatte ihr es versprochen.“ – Der Abend ging ab, und der letzte Tanz sollte doch kerben, sich spitz einzeichnen ins Hirn. Bald würde bald, wäre das notwendige Übel verdaut, und sie könnte sich wegheben von ihrem Kreis, der sie schnürte, der das Theater, die Bücher als Notdurft sah auf die Schnelle. Bietet nicht Sarodnick so ihr eine Chance? „Die Sprache ist Mittel zum Zweck“, – und der Zweck würde nah bei ihm sitzen, wie ein Foto im Klick, wie das Auslösen eines Moments, der die Entscheidung bedeutet.
Fotografiert sie nicht gern? Hatte sie nicht schon als Kind vom Dach andere Dächer gemalt? Ihre Mutter freilich holte sie fort, wies den Vertrieb aus der Zeit und stellte sie auf die richtigen Beine – sie hatte ganz andres zu tun. „Ohne Mann“ – das war ohne Vater, hieß alleine durchbringen das Kind, bedeutete die Knochen sich nässen im Brauwerk und diesem „Kerl“ den Fluch nachschicken für die angedauten Jahre als Braut – brautlos und ohne Beruf. Sie war rum um die Jahre, und in den Tränen hatte sie dazu noch den Hopfen, die Gerste von dem Freibier im Werk. „Das Kind soll im Elend nicht saufen!“ – Das Kind – der Glücksspiegel eh schon verspielt – sollte studieren, ordentlich sein, Leute und fein, mit Geld in der Tasche, das knistert. „Malerei? – Maler malen daneben. – Sie kann nebenbei tun, als würde sie sein: häuslich zu Hause, vom Balkon das Bild auf die See.“
Und Monika wurde begabt für die Sprachen, redete nach dem Munde der Fremden, sprach breiter als die Spitzen im Norden, und es klang ein bisschen wie Ausland dazu. Die Tochter sollte mal die Mutter begleiten rund um die Welt, in ihre Träume und in ihr „Erzähl mir von das!“. Monika ließ ihre Mundwinkel hängen im Winkel und hörte den Rat, wird lange noch hören, gehören, gehorchen – trotz Trotz –, den Trotz nur in die Lippen sich schreiben. Sie wird die Mutter dulden und meiden – geschehen ist Scham, und zweimal kann man nicht in den Topf –, die Entscheidung fällt einmal im Staat. Gewöhnlich nimmt der Vater die Wahl, wenn man nach Grünzeug gerade erst riecht, und er nimmt sich dabei außerordentlich frei: „Du studierst – warte mal! – studierst Medizin!“ – Man wartet – der Vater bewirbt, kommt an, und der Weg des Sohnes ist gemacht und sein Bett: fünf Jahre höhere Schule, der Arbeitsplatz in der Klinik schon vor der „Fünf“ um den Hals und an diesem Platz bis zum Platzen gehalten. Da ist bloß noch für Auftrag, Orden und Lohntüte Raum. „Also die Ausnahme sein?“ – Ausnahmen stinken wie Schweiß oder Urin, den man in der Hose mitträgt als Angst. Sagen wir Normalität, abgesteckter Pfahl in dem Bein, Norm in der Norm: „Ich werde Lehrer. Geschichtenlehrer.“ – Nach vierzig Jahren schichtet man noch, langlebig, zukünftig, sicher auf festen Füßen genagelt. Der Marsch, die Unweil ist der Tugend abhold. „Wir wissen!“ – schon längst. „Seid bereit!“, – im Alter das Kind, der verdiente Feierabend mit dreißig – mit fünfundzwanzig gibt es keinen Studienplatz mehr, allerhöchstens noch fern, zweitgleisig, unwichtig, oder mit wichtigen Leuten im Gleis. Gewisslich wäre das auch zu stark für den Staat: Nach einem Vierteljahrhundert will plötzlich noch einer wissen, dass er nicht weiß, dass er sich irre und anders will sein! Ziele sind Ziele im Auge wie Dorn, und der Staat kann nicht warten, bis Monika sich bequemt zu entschließen. „Nützlichkeitsding.“ – Jedes Ding ist nützlich, solange es läuft.
Und Monika lief wie gedreht in Stralsund inmitten der plattspitzen Schüler, die Stimme im Glas, die sie im Schulchor kristallisierte. „Lehrerin!“, stimmten die Lehrer. „Stimme, Strenge und Stolz.“ Doch Monika leerte den Stolz, gor ihn in sich noch auf: wenn schon nicht malen, wenn schon die Mutter, dann die Erziehung – und die Kinder am Zug zu den Teufeln!
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