3)Die wissenschaftliche Revolution des 15. und 16. Jahrhunderts löste eine fundamentale Veränderung der Gesellschaft aus: Neue Technologien und fundamentale naturwissenschaftliche Entdeckungen brachten vollkommen neue Weltbilder hervor und lösten die Bedeutung von Religion und Kirche als Instanz der Welterklärung ab. Die wissenschaftliche Revolution wurde durch Nikolaus Kopernikus eingeleitet, der ein neues Weltbild zeichnete, das dem der Kirche fundamental widersprach: Die Kirche sah die Erde im Zentrum des Universums, die Sonne umkreist die Erde. Laut Kopernikus steht die Sonne im Mittelpunkt unseres Universums, die Erde kreist als einer ihrer Planeten um sie, wie später Galileo Galilei bestätigte und weiter erforschte. Diese Erkenntnis, ausgelöst durch den Blick durch ein Fernrohr, war Gottes- bzw. Kirchenlästerung. Dafür wurde er von der katholischen Kirche bestraft und entkam nur knapp seiner Hinrichtung.32
Alle diese großen Umbrüche – so kann man schließen – wurden durch Entwicklungen des Gehirns und der wachsenden geistigen Fähigkeiten der Menschen ausgelöst. Die letzte dieser drei Revolutionen leitete die »Moderne«, die europäische Neuzeit, ein und bestimmt bis heute unser westliches Weltbild: das naturwissenschaftlich-technische Paradigma.
Gesellschaftliche Veränderung ist Veränderung der materiellen Lebensbedingungen
»It’s the economy, stupid!« 33
James Carville
Der Begriff Ökonomie beschreibt die Formen der Sicherung des Lebens der Menschen und deren materielle Grundlage: von der Herstellung über die Verteilung und Verbreitung materieller Güter – also Produktion, Handel, Konsumation von materiellen Gütern bis zur Verteilung des materiellen Wohlstands, der daraus entsteht. Die wissenschaftliche Ökonomie hat zahlreiche Konzepte und Modelle hervorgebracht, die die Veränderungen des gesellschaftlichen Wirtschaftens beschreiben. Es sind Modelle, keine Wahrheiten.
Karl Marx entwickelte eine auf Adam Smiths Arbeiten beruhende Theorie der Ökonomie und stellte die These auf, dass die Ökonomie die Grundlage aller gesellschaftlichen Entwicklungen ist. Es ist das gesellschaftliche »Sein«, das das »Bewusstsein« und damit das Handeln der Menschen bestimmt. In dieser »materialistischen« Tradition entwickelte der russische Ökonom Nikolai Kondratieff eine »Wellen-Theorie«, die auf der These basiert, ökonomische Veränderungen seien Treiber der gesellschaftlichen Veränderungen. 34Er beschreibt die Entwicklung der modernen Ökonomie als wellenförmige, zyklische Prozesse, die nach ihm benannten Kondratieff-Zyklen, die immer wiederkehrende Phasen des Wachstums, des Niedergangs und der Erneuerung sind (siehe Abb. 9).
Die ökonomischen Wellenbewegungen werden jeweils durch neue Produktionsmittel und Technologien ausgelöst und dauern in der modernen Industriegesellschaft etwa 40–60 Jahre: Die Dampfmaschine beendete beispielsweise die agrarisch geprägte Ökonomie; sie ermöglichte die erste Industriegesellschaft und die Massenproduktion von Gütern. Die nächste Welle wurde durch die Erfindung des Stahls ausgelöst, wodurch vollkommen neue und stabilere Güter erzeugt werden konnten. Die Nutzung von Elektrizität und Chemie führte zur dritten großen Welle der ökonomischen Entwicklung, die wieder neue Industrien und Produkte, aber auch neue Lebensformen hervorbrachte.
Abb. 9: Kondratieff-Zyklen35
Kondratieffs Wellenmodell beginnt bei der Dampfmaschine und endet vorläufig mit der vierten ökonomischen Welle der Nutzung fossiler Energiequellen. Jede Welle weist einen Prozess der Veränderung auf: vom beginnenden Wohlstand (»prosperity«) über einen Rückgang des Wohlstands (»recession«) zur ökonomischen Krise und Depression (»depression«) bis hin zu einem erneuten Aufschwung, einer Verbesserung (»improvement«) der Wirtschaft.
Der deutsche Zukunftsforscher und Mitglied des Club of Rome Leo A. Nefiodow setzt auf diesem Modell auf und prognostiziert eine sechste Welle, ausgelöst durch die neuen Informationstechnologien. Seine Prognose für die Zukunft lautet: Das 21. Jahrhundert wird das Zeitalter der Kooperation sein, nachdem die Phasen davor eine so hohe Komplexität von Ökonomie und Gesellschaft geschaffen haben, dass die daraus entstehenden Probleme nur durch Kooperationen gelöst werden können. Diese Theorie wurde von vielen Ökonomen aufgegriffen. 36
Auch der Ökonom Jeremy Rifkin sieht die Ökonomie als Treiber von gesellschaftlichen Veränderungen, allerdings nur dann, wenn noch weitere Faktoren dazukommen:
»Die wesentlichen ökonomischen Umwälzungen der Geschichte haben einen gemeinsamen Nenner: Alle erfordern sie drei Elemente, die im wechselseitigen Miteinander das Funktionieren des Systems als Ganzes ermöglichen: ein Kommunikationsmedium, eine Energiequelle und einen Transportmechanismus.« 37
Der Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister sieht die Impulse, die die Geschichte vorantreiben, ebenfalls in der Ökonomie und in den Unterschieden bzw. Gegensätzen von Klasseninteressen. Drei Faktoren wirken auf die Geschichte ein:
»Erstens, eine schwere Krise und damit eine wachsende Zahl von Erniedrigten, zweitens, eine Organisation ihrer Interessen, und drittens, eine ›Navigationskarte‹, welche der Bewegung Orientierung und Ausdauer verleiht.« 38
Veränderung durch Technologie und Innovation
»Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?« 39
Armin Nassehi
Ganz im Sinne der genannten Autoren und Autorinnen wird der technologischen Revolution durch die Digitalisierung der Kommunikation eine besondere Bedeutung und Wirkung auf die aktuelle Veränderung nicht nur der Ökonomie, sondern vor allem unserer Gesellschaft zugeschrieben.
Die Erfindung von einfachen Maschinen, des Mikroskops, der Dampfmaschine oder des mit fossiler Energie betriebenen Verbrennungsmotors, der Telegrafie oder von elektrisch betriebenen Geräten: Jede dieser Innovationen hat die Welt massiv verändert. Wir sprechen von industriellen Revolutionen. Das 19. und 20. Jahrhundert stehen im Zeichen der Automobilindustrie: Die durch das Auto bestimmte Welt wurde mit neuen Straßen durchpflügt, riesige Städte entstanden rund um die Automobilfabriken, die gesellschaftliche Mobilität erhöhte sich dramatisch.
Heute stehen wir am Übergang der Industriegesellschaft in eine digitale Gesellschaft.
»Wir haben es mit nichts Geringerem zu tun als mit der Vermutung, dass die Einführung des Computers für die Gesellschaft ebenso dramatische Folgen hat wie zuvor die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks.« 40
Digitalisierung und die damit verbundene Globalisierung haben nicht nur die Welt dramatisch und fundamental verändert, sondern auch die Formen bisheriger Veränderungen verändert, darüber besteht kein Zweifel: Wir leben, arbeiten und fühlen anders, sind anders in der Welt, sehen unsere bisherigen Orientierungskoordinaten – Raum und Zeit – verschwinden. Wir kommunizieren und kooperieren über Raum und Zeit hinweg. Die Resonanzen unseres In-der-Welt-Seins verändern sich. Wir können unsere Welt und uns selbst zunehmend in immer kleinere Elemente zerlegen, immer mehr messen, immer genauere Aussagen über uns selbst und über die Welt machen. Wir schaffen uns – wie Kucklick es ausdrückt – eine »granulare Welt«. 41Indem wir die Welt, uns selbst und alle unsere Tätigkeiten immer feiner und differenzierter zerteilen und messen können, entsteht für uns eine neue Realität, die wir wieder neu – zerlegt in Daten – kommunizieren. »Bits and bytes« werden zum Maß der Kommunikation.
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