In den vergangenen Jahren ist eine vollkommen andere, bisher wenig beachtete Grenze der Gesellschaft stärker ins Bewusstsein gelangt: die Grenze zur ökologische Umwelt, also zur Natur, in der und von der wir leben. Das Verhältnis von Gesellschaft und Natur war immer schon ein zentrales Thema der Menschen, das allerdings unterschiedlich interpretiert wurde und wird: Natur als Ressource, als Gefahr, als Quelle der Spiritualität oder als Quelle von Reichtum. Heute ist die Umwelt zum »Sorgenkind« der Menschheit geworden: Es ist das Bewusstsein von Grenzen zur Natur und auch von Grenzen der Natur entstanden, die nicht nur für einzelne Gesellschaften, sondern für die globale Gesellschaft relevant sind.
These 4: Gesellschaft muss ihre eigene Komplexität einfangen
Gesellschaften sind hochkomplexe Kommunikationssysteme. Um mit sich selbst umgehen zu können, um sich selbst steuerbar zu machen, um die eigene Komplexität zu bearbeiten, muss jede Gesellschaft eine innere Ordnung schaffen. Solche Ordnung entsteht, indem die Gesellschaft sich in einzelne Teilsysteme »portioniert« und strukturiert. Zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Entwicklungsformen und unter unterschiedlichen Bedingungen waren jeweils unterschiedliche Ordnungskriterien maßgebend: vertikal etwa durch unterschiedliche Machtebenen und Hierarchien; horizontal etwa entlang von Arbeitsformen oder Ständen oder entlang von Familien oder Stämmen. Damit konnten innerhalb der Gesellschaft Zugehörigkeiten ausdifferenziert werden, die Orientierung und Sicherheit gaben.
Unsere moderne Gesellschaft gliedert sich in funktionale Teilbereiche, die für das Ganze der Gesellschaft wichtige Aufgaben – Funktionen – erfüllen: Bildungs-, Gesundheits-, Wirtschafts-, Sozialoder politisches System. Diese Differenzierung hilft den Mitgliedern der Gesellschaft, sich zurechtzufinden, zu wissen, wohin sie sich mit ihren unterschiedlichen Anliegen wenden können. Diese jeweiligen gesellschaftlichen Anliegen können von Organisationen bearbeitet werden.
»Ohne Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme von geringerer Komplexität, etwa Systeme für Wirtschaft oder für Politik, für Erziehung oder für Kriegführung, gäbe es keine Eigenständigkeit von Organisationen.« 25
2.3Wie verändert sich eine Gesellschaft?
Es ist schon schwierig, sich selbst zu ändern. Noch schwieriger ist es, andere Menschen, Familien oder Organisationen zu verändern. Fast unmöglich scheint es zu sein, die Gesellschaft zu verändern. Trotzdem kann man sagen: Jede Gesellschaft hat sich immer wieder verändert. Wie ist das gekommen?
Ausgehend von der Definition von Gesellschaft als Kommunikationssystem lässt sich schließen, dass auch Veränderung von Gesellschaften mit einer Veränderung von Kommunikation einhergeht. Diese Veränderungen können entweder durch innere Prozesse ausgelöst werden: Sei es der dialektische »Kampf der Widersprüche«, seien es Innovationen und Entdeckungen. Veränderungen können aber auch durch externe Ereignisse wie Naturkatastrophen oder andere Veränderungen der ökologischen Bedingungen ausgelöst werden.
Dirk Baecker sieht die wesentlichen Auslöser gesellschaftlicher Entwicklungssprünge in den Veränderungen der Medien und der Mittel der Kommunikation. Gesellschaftliche Veränderungen entstanden demnach durch
»die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks. Die Einführung der Sprache konstituierte die Stammesgesellschaft, die Einführung der Schrift die antike Hochkultur und die Einführung des Computers die nächste Gesellschaft« 26.
In der Literatur finden sich sehr unterschiedliche Erklärungen für gesellschaftliche Veränderungen. Hier eine kleine Auswahl:
Veränderung durch Zufälle
Veränderung durch Erkenntnis
Veränderung der materiellen Lebensbedingungen
Veränderung durch Technologie und Innovation
Veränderungen durch soziale Konflikte.
»Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.« 27
Victor Hugo
Angeblich hatte man zur Zeit des Pyramidenbaus die Dampfmaschine schon erfunden. Doch wer braucht schon eine Dampfmaschine, wenn Sklaven billigere Produktivkräfte sind?
Das Schießpulver/Schwarzpulver wurde schon vor über 1000 Jahren in China erfunden und dort vor allem bei Festen und Feiern für Feuerwerke verwendet, lange bevor es in Europa bekannt und dann für Kriegswaffen verwendet wurde. Es war offenbar noch nicht die rechte Zeit dafür, solange man schöne Rüstungen und Burgen hatte, um Krieg zu führen.
Manche Veränderungen entstehen als kleine, unbeachtete Phänomene. Wenn mehrere Zufälle zusammenkommen, dann ist die Zeit einfach reif für einen Sprung in eine neue Richtung, man spricht dann von einem »tipping point«, einem Kipppunkt.
»Der Tipping Point ist der Moment der kritischen Masse, die Schwelle, der Hitzegrad, bei dem Wasser zu kochen beginnt.« 28
Der Tipping Point markiert einen plötzlichen Wendepunkt, an dem etwas, das möglicherweise schon länger da ist, auf Umstände trifft, die ihm Kraft und Bedeutung geben. Wasser kocht nicht einfach so: Es braucht dazu ein Gefäß und Wärme. Der »Zufall« hat immer eine Geschichte, die diese Umstände, das jeweilige »Feld«, hervorgebracht hat: Zufällige Entdeckungen, künstlerische Kreativität, technische Innovationen haben die Gesellschaft oft von einem Moment auf den anderen nachhaltig verändert.
Veränderung durch Erkenntnis
»Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun!« 29
Humberto Maturana und Francisco Varela
Andere Erklärungen für die Entwicklung und Veränderung der Gesellschaft werden in den intellektuellen Fähigkeiten des Homo sapiens gesehen, der die Welt, in der er lebt, nicht nur zu erkennen vermag, sondern diese Welt durch Erkenntnis neu entwerfen und das eigene Leben darin gestalten und verändern kann.
Der Historiker Yuval Harari sieht die wesentlichen Impulse für gesellschaftliche Umwälzungen in drei großen intellektuellen Entwicklungsschritten der Menschheit:
1)Die kognitive Revolution begann mit der Entwicklung der Sprache (vor circa 70.000 Jahren). Sprache hat die Welt für uns Menschen vollkommen verändert und erweitert. Das Besondere an der menschlichen Sprache ist die Möglichkeit und Fähigkeit, mit ihrer Hilfe extrem viel Information zu sammeln. Sprache machte möglich, dass Menschen sich über ihren bisherigen Lebens- und Denkrahmen hinaus austauschen konnten. Durch Sprache konnten Geschichten und konnte Geschichte entstehen und über Generationen und Regionen hinweg weitererzählt werden. Komplexe Situationen konnten besprochen und Kooperationen entwickelt werden. Sprache ermöglicht Abstraktion.
»Das Einmalige ist, dass wir uns über Dinge austauschen können, die es gar nicht gibt.« 30
Durch Sprache konnte reflektierendes Ich-Bewusstsein entstehen, die Worte »Ich« und »Wir« sind Ergebnisse einer – sprachlichen – Selbstbeobachtung und Selbstunterscheidung, oder, wie Heinz von Foerster es ausdrückt: Begriffe zweiter Ordnung. Die Entwicklung der Sprache hat die Gesellschaft massiv verändert: Die Welt erhielt eine Geschichte, entwickelte größere Stämme und mehr Territorium.
2)Durch die landwirtschaftliche Revolution vor circa 10.000 Jahren setzte – ausgelöst durch neue Erkenntnisse über die Natur und ihre Nutzung –, das Sesshaftwerden der Menschen ein. Wandern, Jagen und Sammeln wurden von Sesshaftigkeit, Tierzucht und -haltung und Ackerbau abgelöst. Neue Formen der Sicherung von Lebensgrundlagen entstanden: Lagerung von Überschüssen, Bildung von Eigentum und die Entwicklung von Hierarchie mit dem Ziel, das neue, komplexere Leben zu ordnen. Diese Revolution ist bis heute die bestimmende Grundlage unseres gesellschaftlichen Lebens und Wirtschaftens.31 Auf dieser Grundlage sind Städte, Nationen, Handel und Religionen entstanden. Einen großen Umbruch der Gesellschaft markiert der Beginn der Neuzeit, der durch die wissenschaftliche Revolution eingeleitet wurde.
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