Unterschiedliche Beobachter beschreiben Gesellschaft aus unterschiedlichen Perspektiven: Ethnologen bezeichnen Gesellschaft vielleicht als einen auf Riten, Werten und Regeln bestehenden Zusammenschluss von Menschen. Für Historiker ist Gesellschaft ein Ablauf von Ereignissen, ein kontinuierliches Entstehen und Vergehen von Formen des Zusammenlebens und deren Wirkungen. Für Ökonomen ist Gesellschaft eine Art und Weise, wie Güter erzeugt, verteilt, vermarktet werden. Für Philosophen stehen Fragen von Sinn, Ethik, Widersprüche, das Verhältnis der Person und des »Ganzen« im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Gesellschaft ist aber aus aber zumindest zwei Gründen nicht objektiv beobachtbar: erstens, weil wir selbst Teile der Gesellschaft sind; und zweitens ist Gesellschaft kein Ding, sondern ein Konstrukt: etwas, das wir als ein Ganzes definieren. Konstrukte sind subjektiv und nicht beobachtbar, auch nicht für Außerirdische. Sie existieren nur in unseren Köpfen und werden von jedem Menschen anders definiert. So gesehen kann weder ich noch die Wissenschaft, die Kunst oder E. T. etwas über die Gesellschaft sagen, das den Anspruch auf Objektivität erfüllen könnte. Über die Gesellschaft können nur Thesen formuliert werden.
2.2Vier Thesen über Gesellschaft
Ich stütze mich gern auf Theorie. Wenn es um Thesen über Gesellschaft geht, erscheinen mir die Soziologie und Systemtheorie diesbezüglich als besonders hilfreich:
1)Gesellschaft ist ein Kommunikationssystem.
2)Gesellschaftliche Kommunikation ist Kommunikation über Gesellschaft.
3)Gesellschaftliche Kommunikation erzeugt die Rahmenbedingungen für ihre eigene Kommunikation.
4)Gesellschaft muss ihre eigene Komplexität einfangen.
These 1: Gesellschaft ist ein Kommunikationssystem
Normalerweise fällt uns zur Gesellschaft ein, dass sie aus Menschen besteht. Wir sind Teil der Gesellschaft und erleben diese von dem Punkt aus, an dem wir selbst stehen. Unser Verständnis, unsere Einschätzung von Gesellschaft wird zudem durch die Perspektive jener Gruppen von Menschen geprägt, denen wir uns jeweils zugehörig fühlen: unserer Generation, unserem Geschlecht, unserem geografischen Lebensraum, unserer sozialen Schicht, den Menschen aus unserem Arbeitsumfeld. Jede dieser Zugehörigkeiten erzeugt für jeden und jede von uns ein eigenes, besonderes Bild von Gesellschaft. Die Gesellschaft gibt es also nicht.
Aus systemtheoretischer Sicht ist Kommunikation der zentrale Begriff zur Definition sozialer Systeme. Gesellschaften sind soziale Systeme, die wie alle sozialen Systeme durch Kommunikation entstehen, aufrechterhalten werden und sich durch sie verändern. Lateinisch communis bedeutet »eins werden«. Gesellschaften erzeugen sich gleichsam in dieser »kommunikativen Einheit« immer wieder neu, indem Kommunikation an Kommunikation anschließt und damit ermöglicht, dass der Rohstoff des Systems, Kommunikation, immer vorhanden ist und das System daher immer lebendig bleibt. In der systemischen Begrifflichkeit wird dieser Prozess der kontinuierlichen Selbsterschaffung »Autopoiese« 19genannt.
Durch Kommunikation erschaffen wir aber nicht nur jene sozialen Systeme, in denen wir leben, sondern wir definieren zugleich eine Systemgrenze, innerhalb derer ein »Wir« entsteht. Durch diese Grenzziehung schaffen wir auch eine Umwelt und damit die »anderen«, die nicht zu uns gehören, die außerhalb unserer Systemgrenzen sind. Kommunikation unterscheidet und verbindet zugleich. Die Frage, wer zu diesem »Wir« dazugehört, wer sich diesem »Wir« zugehörig fühlt, wird durch Kommunikation bearbeitet und entschieden. 20
These 2: Gesellschaftliche Kommunikation ist Kommunikation über Gesellschaft
Kommunikation hält die Gesellschaft zusammen, definiert ihre Grenzen, ihre gesellschaftliche Identität, beschreibt die gemeinsamen und unterschiedlichen Werte, die dieses »Wir« oder »unsere Kultur« gegenüber den »anderen« ausmacht. Durch Kommunikation gestaltet sich das Zusammenleben oder das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, durch Kommunikation eignet sich jeder und jede von uns die Welt und die Gesellschaft an und bestimmt die Entwicklungen, die diese »Weltbeziehungen« nehmen. 21
Dirk Baecker gliedert die zentralen Inhalte gesellschaftlicher Kommunikation in drei Themen, die »Minimalbedingungen« für das Leben einer Gesellschaft darstellen und permanent bearbeitet werden müssen:
»Die erste Minimalbedingung lautet, dass es weitergeht. Und die zweite lautet, dass das, was da weitergeht, nach wie vor als Gesellschaft (und nicht als etwas ganz anderes) erkennbar ist. Eine dritte Minimalbedingung ist […]: Offenbar muss es eine Erkenntnisleistung geben, die die Gesellschaft als Gesellschaft wiedererkennt.« 22
Die Kommunikation in und über die Gesellschaft ist also auf das Weiterleben der Gesellschaft, auf ihre Zukunft , ihre Identität und Wiedererkennbarkeit sowie auf ihre Selbsterkenntnis gerichtet.
These 3: Gesellschaftliche Kommunikation erzeugt die Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Kommunikation
Wie unterscheidet sich Gesellschaft von anderen sozialen Systemen, etwa einer Organisation, einer Gruppe oder einer Familie? Welche spezifischen Unterscheidungsmerkmale zeichnen die Gesellschaft aus? In der soziologischen Literatur werden fünf Merkmale von Gesellschaft genannt, die einen Unterschied zu anderen sozialen Systemen markieren:
Inklusion bedeutet, dass man in einer Gesellschaft normalerweise – etwa durch Geburt, durch Rituale – automatisch dazugehört und an der gesellschaftlichen Kommunikation beteiligt ist. Der Ausnahmefall ist Exklusion, der Ausschluss aus der Kommunikation der Gesellschaft. Damit spricht man Menschen die Mitgliedschaft ab und macht sie zu Außenseitern. Nachdem Gesellschaft auch immer ein Schutz – gegen die Natur, gegen Gewalt oder gegen Hunger – war, bedeutete der Ausschluss meistens den Tod. Gesellschaftlicher Tod war körperlicher Tod. Das ist heute noch so.
Koppelung: Individuen in Gesellschaften sind lose gekoppelt, also nicht unbedingt direkt und persönlich miteinander verbunden, sondern durch ihre Mitgliedschaft in der Gesellschaft. Sie müssen einander nicht kennen oder etwas miteinander zu tun haben. Es genügt, dass sie sich durch Kommunikation zu dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen.
Zwecklosigkeit: Eine Gesellschaft dient keinem Zweck und keinem Ziel, das sie von einer außenstehenden Instanz erhält. Gesellschaften haben nur den Zweck, weiter zu existieren. Gesellschaft ist, so gesehen, ein Selbstzweck.
Lebensraum: Gesellschaft ist der ultimative Raum unseres Lebens, die Welt, die uns umschließt und die unser Leben prägt. Unser Leben wird durch unseren Platz in der Gesellschaft und unser Verhältnis zu ihr bestimmt. Gesellschaft schwingt in uns selbst. Hartmut Rosa untersucht diese Resonanzen, die Gesellschaft in uns auslöst, die wir als Teil der Gesellschaft auf diese entwickeln und die entscheidend dafür ist, wie wir selbst in der Gesellschaft stehen.
»Meine These ist, dass es im Leben auf die Qualität der Weltbeziehung ankommt, das heißt auf die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen; auf die Qualität der Weltaneignung.« 23
Wenn wir also von Gesellschaft als Lebensraum sprechen, dann ist damit das Zusammenspiel von Menschen und der Gesellschaft gemeint. Dieses Verhältnis ist entscheidend für uns und die Gesellschaft:
»Ob Leben gelingt oder misslingt, hängt davon ab, auf welche Weise Welt (passiv) erfahren und (aktiv) angeeignet oder anverwandelt wird und werden kann.« 24
Grenzen der Gesellschaft: Immer wieder sind die Grenzen der Gesellschaft Thema gesellschaftlicher Diskussion: Wer gehört dazu, wer nicht?
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