Wahlunfreiheit: Wir können beobachten, wie wir unsere Freiheit und Wahlfreiheit aufgeben, uns bei politischen Entscheidungen von gutem Marketing leiten lassen. Unsere Wahlfreiheit verlagert sich auf die Entscheidungen zwischen Waschmitteln, Automarken oder Urlaubsdestinationen. Wir gehen freiwillig in die Unfreiheit, wie Timothy Snyder es formuliert.52
Markt macht Politik: Politik ist zu einem von vielen Aspekten der Wirtschaft verkommen. Politisches Wahlverhalten wird von gut orchestrierten Kommunikations- und Marketingteams gemanagt, es geht um »Marktanteile«, die mittels »Marktanalysen« gesteuert werden.53 Bürger und Bürgerinnen sind zu »Konsumenten« von Politik geworden.
Kommunikation als Kampfplatz: Wir erleben, wie in der öffentlichen Kommunikation laufend Tabus gebrochen werden und eine Normalisierung von Hass und Rassismus stattfindet.54 Dahinter steht ein Auseinanderdriften und eine Polarisierung der Gesellschaft, eine Radikalisierung in vielerlei Hinsicht: religiös, national, rassistisch. Ein Unterscheidung von »Ich und die anderen«55, wie die Philosophin Isolde Charim ihr Buch betitelt.
Das Herz schlägt rechts: Und nicht zuletzt können wir einen globalen politischen Rechtsruck beobachten, der durchaus innerhalb demokratischer Regeln und durch Wahlen wächst und die Demokratie von innen her zerfrisst. Regula Stämpfli nennt diese Entwicklung »Trumpismus«.56 Diese Entwicklung hat vermutlich sehr viele Ursachen. Eine davon liegt in dem Bündnis zwischen den Eliten einer Gesellschaft und dem Pöbel, wie Hannah Arendt es formuliert:
»Only the mob and the elite can be attracted by the momentum of totalitarianism itself. The masses have to be won by propaganda.« 57
Diese Liste von Phänomenen der derzeitigen Krise ließe sich noch verlängern. Aber die hier aufgelisteten Beschreibungen sind Grund genug, Veränderungen zu wünschen. Die Krise liegt förmlich in der Luft, und sie ist für uns existenziell bedrohlich.
Die großen Themen der Transformation
Jeremy Rifkin nennt das Zusammentreffen neuer Produktionsmittel und neuer Kommunikationstechnologien als den wichtigsten Auslöser gesellschaftlicher Veränderungen. 58Wir befinden uns heute mitten in einer technologischen Veränderung weg von der fossilen Industriegesellschaft hin zu einer digitalen Gesellschaft. Die digitale Technologie verändert vor allem unsere Kommunikation, die ja das Kernelement der Gesellschaft ist, vollkommen. Wir haben die Krise in ihren Erscheinungsformen beschrieben. Doch worum geht es inhaltlich bei dieser Krise? Welche Themen und Fragen beschäftigen uns heute, welche Gegensätze bestimmen unsere Krise? Was ist heute das »Alte, das stirbt«, und was ist das »Neue, das geboren werden will« (siehe Abb. 3)?
Meine Beobachtung des öffentlichen Diskurses in Medien, wissenschaftlichen Untersuchungen, aber auch der Problemstellungen von Unternehmen, die auf diese Herausforderungen reagieren müssen, führen mich zu drei großen Themenfeldern, die sich, da sie noch nicht gelöst sind, als Krisenfelder zeigen und sich als die Kernelemente der aktuellen gesellschaftlichen Krise zusammenfassen lassen: 59
die ökologische Krise: Zerstörung unseres Lebensraums Natur, der Umwelt durch Erderwärmung, Verschmutzung und Vernichtung.
die ökonomische Krise, entstanden aufgrund der Übermacht des Marktes gegenüber der Politik, der Übermacht der Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft, von internationalen Konzernen gegenüber kleineren oder auch lokalen Unternehmen, führt zu einer immer größeren Unausgewogenheit in der Wirtschaft.
die Demokratiekrise: Die Institutionen der Demokratie werden zunehmend angegriffen und infrage gestellt und dienen sogar als Rahmen für die Legitimierung von Demokratiezerstörung, indem autokratische Politik sich durch Wahlen legitimiert. Bürger und Bürgerinnen werden zu Konsumenten umgedeutet, die die Wirtschaft durch ihren Konsum am Laufen halten.
Philipp Blom hat die vielfältigen Themen der Krise und die zentralen Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft stehen, mit drei Begriffen umrissen:
»Die Erderwärmung, die Digitalisierung und die Umerzählung des Menschen zu Verbrauchern sind Produkte der industriellen Revolution, der Massenproduktion, des Erdöls. Alle drei haben neue Voraussetzungen für den Erfolg und das Versagen von Gesellschaften geschaffen. Der Umgang mit allen dreien wird entscheidend dafür sein, ob und inwiefern die kommenden Veränderungen katastrophal sein werden oder auch Chancen bieten, sie nicht nur zu erleiden, sondern zu gestalten und zu nutzen.« 60
Ähnlich beschreiben auch die Ökonomen Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt die großen Themen unserer Gesellschaft:
»Heute sind die Aufgaben, die es auf der globalen Ebene zu bewältigen gilt, viel umfassender und komplexer. Insbesondere muss die ökologische Dimension der globalen Zusammenarbeit mit der ökonomischen Dimension in Einklang gebracht werden. Es ist keine Übertreibung, wenn man konstatiert: Die Staatengemeinschaft steht heute vor den größten Herausforderungen der Menschheitsgeschichte.« 61
Zusammengefasst lassen sich die großen Themen der gesellschaftlichen Krise wie in Abbildung 10 darstellen.
Abb. 10: Die großen Herausforderungen der Gesellschaft
Die Komplexität der derzeitigen globalen Krise liegt darin, dass jede dieser einzelnen Herausforderungen mit den beiden anderen verbunden ist, dass jede Krise für die jeweils andere Ursache und Wirkung zugleich ist, sodass Lösungen nur im Zusammenspiel dieser Themenstellungen möglich sind. Wir haben es mit kybernetischen Regelkreisen, mit Wechselwirkungen und Unberechenbarkeit zu tun: Unsere Welt ist »VUCA« geworden, wie man sagt, v olatil, u nsicher, k omplex und a mbig (mehrdeutig), und damit der Interpretation ausgeliefert.
Insgesamt kann man die Krise auch als einen globalen und tiefen Verlust von Balance betrachten, als Einseitigkeit, Schieflage und Ausblenden der Komplexität der Welt.
Um es nicht zu einfach erscheinen zu lassen: Sofern wir als Gesellschaft uns vornehmen, diese miteinander verwobenen Krisen zu lösen, müssen wir es auf eine Art und Weise tun, die uns als Gesellschaft zivilisatorisch weiterbringt und nicht zurückwirft. Wir brauchen also eine globale Veränderung zweiter Ordnung, einen fundamentalen Musterwechsel. Das wäre dann alles, soweit.
3.2Wege aus der Krise – ein Prozess
Ich habe die Krise der gegenwärtigen Gesellschaft in ihrer Dynamik, ihren Erscheinungsformen und Inhalten mithilfe der Literatur und aus großer Flughöhe skizziert. Die spannende Frage aber lautet: Wie kommen wir aus dieser Krise wieder heraus? Wie verhindern wir, dass wir darin stecken bleiben oder dass die Veränderung zerstörerisch explodiert? In der Vergangenheit wurden auf diese Fragen unterschiedliche Antworten gegeben:
Die Aufklärung entwickelte ein Menschenbild, das auf Vernunft (im Unterschied zum Glauben) aufbaut:62 Der vernunftbegabte Mensch ist für sich und die Entwicklung der Gesellschaft verantwortlich. Der logisch denkende Mensch steht im Zentrum gesellschaftlicher Veränderung.
Die marxistische und später die kommunistische Sicht auf Veränderungsprozesse sind vom Prinzip des Klassenkampfes bestimmt:63 Gesellschaftliche Veränderung könnte, so die Annahme, nur durch einen revolutionären Umsturz nach dem Vorbild der Französischen Revolution entstehen.
Seit der industriellen Revolution wurden Veränderungsprozesse als machbar, gestaltbar, steuerbar und einer technisch-linearen Logik folgend konzipiert.64
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