»Die bisherige Gesellschaft war wie aus Billardkugeln zusammengesetzt, die wir im Laufe der Zeit gelernt haben, zu einem belastbaren Gebilde zu arrangieren. Nun werden diese Kugeln nach und nach durch winzige Schrotkugeln ersetzt. Das verändert radikal den sozialen Aggregatzustand und die gesellschaftliche Statik – und zwingt uns dazu, neue Weg zu finden, aus den feineren Praktiken eine stabile Ordnung zu bauen.« 42
Die Technologie der Digitalisierung bildet
»die Grundlage für die völlige Reorganisation ganzer Branchen, aber auch für neue Formen öffentlicher Kommunikation und politischer Organisation. Vor dem Hintergrund ist es wichtig, der möglichen Reform unserer Wirtschaftsordnung mit hoher Technologieoffenheit zu begegnen« 43.
Technische Innovationen haben immer schon die Welt verändert. In der Digitalisierung vor allem der Kommunikationstechnologie liegen Chancen, Gefahren und Potenziale. Die Geschichte wird gerade neu geschrieben. Wir sind mittendrin und wissen noch nicht, wohin diese Reise uns führt.
»Die Geschichte hat sich noch nicht für ein Ziel entschieden – welchen Weg sie einschlagen wird, könnte noch immer von einer Vielzahl von Zufällen abhängen.« 44
Veränderungen durch soziale Konflikte
Soziale Konflikte, gemäß Karl Marx »Klassenkämpfe«, werden im Allgemeinen von »unten nach oben« geführt. Akteurin dieser Kämpfe ist in der heutigen Sprache die »Zivilgesellschaft«. Ihr kommt eine tragende und zentrale Rolle bei gesellschaftlichen Veränderungen zu. Bewegungen der Zivilgesellschaft leisten einen unersetzlichen und wichtigen Beitrag zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen, indem sie blinde Flecken und Defizite in der Gesellschaft sichtbar machen. Sie legen den Finger in offene Wunden, sie weisen auf ungelöste Widersprüche hin, sie liefern neue, kreative Experimente und zeigen Alternativen zu den Normen des gesellschaftlichen und auch des organisationalen Lebens auf. Uwe Schneidewind bezeichnet sie als »Taktgeber der Großen Transformation« 45.
Solche Bewegungen hat es immer schon gegeben: Sklaven- und Bauernaufstände, Hungerrevolten, Bürgerrechtsbewegungen, Frauenbewegungen, Arbeiterbewegungen, heute Klimaschutzbewegungen. Sie alle haben die Gesellschaft verändert.
Soziale Bewegungen sind eine autonome, selbstorganisierte Menge von Menschen, die durch ein gemeinsames Anliegen verbunden sind. Luhmann beschreibt soziale Bewegungen als eine Form »kollektiven Verhaltens«:
»Als kollektives Verhalten bezeichnet man Massenaktionen, politische Demonstrationen, öffentliche Versammlungen, Umzüge mit einem faktisch nicht limitierten Zugang für Interessenten und Entwicklungstendenzen, die sich aus der Logik der Interaktion ergeben und den Beobachtern oft als ›spontan‹ oder als ›irrational‹ erscheinen.« 46
Zivilgesellschaftliche Bewegungen unterscheiden sich von »der Gesellschaft« durch ihre gemeinsame Ausrichtung auf ihre Anliegen. Sie adressieren diesbezüglich Ziele und Wünsche an einen anderen Teil der Gesellschaft und haben damit auch eine »Gegnerschaft«, die sie als Hindernis bei der Umsetzung dieser Ziele sehen. Erfolgreich sind zivilgesellschaftliche Bewegungen, wenn ihre Ziele und Anliegen in politische Entscheidungsprozesse aufgenommen und im gesellschaftlichen Leben umgesetzt werden.
»In einem normativen Verständnis steht die Zivilgesellschaft für das ›zivile‹, d. h. demokratische humanistische Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften und für den kritischen Umgang mit bestehenden Entscheidungsinstanzen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung.« 47
In der aktuellen Entwicklung schließen sich immer mehr Menschen zu Bewegungen zusammen, die Formen und Methoden des emanzipatorischen Kampfes für nachhaltige und humanistische Interessen und Ziele übernehmen. Um es noch deutlicher abzugrenzen, betont Uwe Schneidewind:
»In diesem normativen Sinn sind organisierte Gruppen, die antiaufklärerische, fundamentalistische, rassistische, demokratiefeindliche und/oder diskriminierende Ideologien in die Gesellschaft tragen, nicht als ›Zivil‹gesellschaft zu sehen.« 48
Zivilgesellschaftliche Bewegungen sind »Kinder einer Gesellschaft«, allerdings sind sie kritische Kinder. Sie greifen nicht nur gesellschaftliche Themen auf, sie vertreten im Allgemeinen auch bestimmte Werthaltungen und gesellschaftliche Zukunftsbilder. Sie sind – je nach ihren Themen und Zielen – sehr unterschiedlich: Manche Bewegungen wirken wie romantische Lagerfeuergemeinschaften, manche agieren wie subversive Kampftruppen, manche sind elitäre Diskussionszirkel, sehr viele sind aber auch professionell organisierte Organisationen und kooperieren über den gesamten Globus hinweg.
So weit der Versuch einer Beschreibung von Gesellschaft und ihren Möglichkeiten der Veränderung. Unser Bezugsrahmen ist gesellschaftliche Transformation. Das führt zur nächsten Frage: Was sollte sich verändern und warum? Um die Gesellschaft »beraten« zu können, brauchen wir einen Auftrag.
3Problembeschreibung und Auftragsklärung
3.1Die Probleme der Gesellschaft – erste Bestandsaufnahme der Krise
Unsere Weltgesellschaft steckt in einer Krise. Darüber besteht ein gesellschaftlicher Konsens. Der öffentliche Diskurs ist stark von Problembeschreibungen und Zukunftsängsten geprägt. Es ist beeindruckend, wie viele Publikationen über den Zustand der Gesellschaft in den vergangenen fünf Jahren erschienen sind. Viele davon sind Problemanalysen, andere sind Lösungsempfehlungen. Um einen gewissen Überblick über Problembeschreibungen zu gewinnen, greife ich auf die Erkundungen und Erkenntnisse von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sowie Experten und Expertinnen zurück.
Die Welt, vor allem die westliche Welt, wurde schon oft von Krisen gebeutelt und hat sich laufend verändert. Eine fundamentale Krise der Neuzeit war vermutlich das Ende der Herrschaft der katholischen Kirche und der Beginn der Aufklärung im 16. Jahrhundert. Das Menschen- und Weltbild veränderte sich, der Alleinanspruch der Kirche, die Wahrheit zu kennen und zu definieren, ging zu Ende. Die Welt, die Gesellschaft und vor allem der Mensch wurden durch die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und durch die Philosophie der Aufklärung neu gezeichnet. Der Paradigmenwechsel wurde also zwischen Kirche und Wissenschaft, zwischen religiösem Dogma und Aufklärung ausgetragen. Dieser Kampf ist noch immer nicht ganz entschieden: Wir drohen derzeit durch religiösen Fundamentalismus und alte Herrschaftsideen wieder ins Mittelalter zurückzufallen.
Autoren und Autorinnen aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern beschreiben die derzeitige krisenhafte Situation unserer Gesellschaft als fundamentalen Umbruch, der eine Reihe von Problemstellungen umfasst:
Bindung geht verloren: Vertraute Prinzipien und Spielregeln des gesellschaftlichen Umgangs und Zusammenlebens verändern sich: Wir sind Egoisten geworden, und ein »Verlust des Mitgefühls«49 bestimmt unser Zusammenleben.
Die Welt ist unverständlich: Wir verstehen die komplexe Welt nicht mehr und erkennen, dass wir die Welt mit reiner Logik und mit Informationen allein nicht mehr erklären können, wie das seit der Aufklärung unterstellt wurde. Wir sind daher darauf angewiesen, unseren Autoritäten zu vertrauen. In der Coronakrise müssen wir unseren Virologen und Virologinnen sowie den Politikern und Politikerinnen vertrauen, wir haben keine Chance, ihre Aussagen zu überprüfen. Wir glauben jenen, die wir für glaubwürdig halten.
Das Ende der Wahrheit: Indem wir die Welt kaum noch verstehen, entscheiden wir notgedrungen aus dem Bauch heraus, auch wenn wir offenkundig angelogen werden.50 Sobald Politiker und Politikerinnen unsere Liebe gewonnen haben, ist es uns egal, ob sie lügen oder nicht. Wesentlich trägt dazu eine immer mehr um sich greifende Verdummung durch die digitalen Echokammern51 bei, in denen sich wiederholende einfache Gedanken immer wieder bestätigen, bis sie zur »gefühlten Wahrheit« werden.
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