1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Oh Gott, wie wird sie das nun auffassen?, bangte Bernd und dachte an die Aktbilder im Nebenzimmer und gar in der avantgardistischen Galerie in Düsseldorf, wo snobistische Reiche sich an Karlas Nacktheit delektieren mochten.
»Kunst«, sagte er behutsam, »der Künstler, so wird Goldmund bewusst, schafft doch Bilder, um irgendetwas aus dem großen Totentanz zu retten, etwas hinzustellen, was längere Dauer hat als wir selbst. Er denkt, dass jeder Mensch dahinrinnt, sich immerzu verwandelt und endlich auflöst, während sein vom Künstler geschaffenes Bild immer unwandelbar das gleiche bleibt. Goldmund arbeitet mit tiefer Liebe an der Narzißfigur, die er Johannes nennt und von der er sagt, nicht eigentlich er, Goldmund habe das Bild gemacht, sondern Narziß habe es ihm in die Seele gegeben.«
»Ist schon gut«, sagte Karla leise und strich sich über ihre Wange. Dann sah sie beherrscht munter auf:
»Was ist aber nun mit Narziß? Du erzählst ständig von Goldmund. Der Roman heißt schließlich Narziß und Goldmund . Der eigene Sinn von Narziß kann sich schließlich nicht darin erschöpfen, Goldmund zu sich selbst geführt zu haben«, bemerkte Karla und setzte sich wieder auf ihr Sofa.
»Ach Karla. Was fragst du nach Narziß. Was soll das Reden«, erwiderte Bernd und sein Gesicht wurde grau und alt. »Seitdem mir meine Existenzberechtigungskarte entzogen wurde, hat doch alles keinen Sinn …«
»Deine was?«
»Nichts weiter. Bloß ein Ausdruck aus einer Satire von Hermann Hesse.«
Nervös zog Bernd seinen Ärmel hoch, schaute auf die Uhr, stand rasch auf.
»Karla, ich muss los. Fährst du mich zum Bahnhof?«
»Du bist mir ein komischer Kauz«, rügte sie und folgte ihm langsam in den Flur.
»Weißt nicht, was du in Hamburg machen sollst, und hast Angst, den Zug zu verpassen.«
»Tja, so sind die Menschen eben, immer in Eile und ohne Ziel.« Er lachte unglücklich: »Der Satz könnte von Hesse stammen.«
Er nahm seinen Parka von der Goethebüste und stand ungeduldig bereits an der Eingangstür.
Kannst du dich nicht ein bisschen beeilen, lag es ihm auf der Zunge, als er Karla hektisch vom Flur in die Küche und in den Flur zurücklaufen sah. Ratlos starrte sie auf den leeren Schlüsselhaken und stellte dann in nüchternem Ton fest: »Der Autoschlüssel ist weg.«
»Das ist doch nicht zu fassen. Hast du denn keinen zweiten?«
»Hab ich nicht«, erwiderte sie gereizt. »Den hat Hubertus mitgenommen.«
Bernd wurde es heiß, er schwitzte in seinem dicken Parka: »Ich halt es hier nicht mehr aus.«
»Musst du auch nicht, ich habe einen zweiten Haustürschlüssel. Wir gehen nach draußen.«
Verdrossen trottete Bernd hinter ihr die Treppen hinunter. Draußen vor der großen Haustür blieb er stehen, ein kalter, modrig nach Laub riechender Wind streifte sein Gesicht. Es nieselte leicht, die Häuser, die dunklen entblätterten Kastanien waren in eine neblige Dämmerung gehüllt. Sie überquerten die Straße. Bernd warf Karlas Auto einen scheelen Blick zu. Schweigend, die Hände tief in den Jackentaschen, gingen sie in ziemlichem Abstand nebeneinander her über feuchte, mit nassem Laub bedeckte quaderförmige Steinplatten. Es fiel ihm ein, wie er schon als Schüler und sogar noch vor kurzem, noch vor wenigen Wochen, solche finsteren und trüben Spätnachmittage im Herbst und Winter gierig und berauscht eingesogen und es geliebt hatte, mit den Füßen im tiefen Laub zu wühlen. Es war eine wohlige Einsamkeit, voll tiefen Genießens. Bisweilen hatte er dann, kaum war er in sein Zimmer zurückgekehrt, mit noch klammen Fingern eine Geschichte geschrieben, selten Gedichte. Das war vorbei, das war vorbei, wie es auch beim Steppenwolf vorbei war. Einen Augenblick fühlte sich Bernd ihm verbunden. Dann überkam ihn ein Anfall gänzlicher Vereinsamung. Regen, Wind und das feuchte Laub waren nicht mehr Stimmung, der Regen war nass, der Wind kalt und das Laub schmutzig. Aufdringlich und laut schrillte O du fröhliche, O du selige, Gnadenbringende Weihnachtszeit aus einer Parterrewohnung zu ihnen auf die Straße. Bernd litt unsäglich und hatte vergessen, dass Karla neben ihm ging.
»Sag mal«, sprach sie ihn an, so dass er hochschreckte. »Der Narziß muss doch wohl auch ein eigenes Leben haben. Ich meine, so was wie eine Biographie.«
»Was soll ein Mönch schon für eine Biographie haben?«, erwiderte er unwirsch. »Außerdem sind Hesses Werke ausgesprochen handlungsarm. Er sagt selbst, er habe vor ›spannenden‹ Handlungen den größten Abscheu, insbesondere in seinen eigenen Büchern. Deswegen hat Hesse sie auch möglichst vermieden.«
Dann sagte Bernd nichts mehr, sah missmutig zu Boden, die Hände tief in den Taschen seines Parkas vergraben.
»Naja«, beharrte Karla, »wenn jeder Mensch nach Hesse einen eigenen Sinn hat, dann müsste das auch für einen Mönch zutreffen, und schon gar für Narziß, wenn er Held, oder nüchtern ausgedrückt, Protagonist ist.«
Bernd zuckte die Achseln.
»Was soll ich sagen. Eigentlich hat Narziß keine Biographie.
Am Anfang der Erzählung ist er Novize, Griechischhilfslehrer und führt Goldmund zu sich selbst. Dann, während der vielen Jahre der Wanderschaft, der Pest kommt er nur in den Gedanken Goldmunds vor. Narziß taucht erst wieder auf, als er Goldmund aus dem Kerker befreit. Er kommt also nur am Anfang und am Schluss vor. Was in all den Jahren dazwischen passiert, erfährt der Leser nicht. Es ist schon merkwürdig. Es wird richtig Spannung aufgebaut. Zwei Mal kündigt Narziß regelrecht an, dass er Goldmund von seinem Leben berichten will. Einmal sagt er: Wir werden also genug Zeit haben, einander dies und jenes zu erzählen und dann noch direkter: Auch ich habe dir dies und das zu erzählen. Ich freue mich darauf . Man wartet ständig darauf, aber Narziß tut es nicht.«
»Nee – doch«, gab Karla von sich und schüttelte verwundert den Kopf. »Das hätte ich bei Hesse nicht erwartet. Er hat doch sonst seine Komposition genau im Auge. Er sagt selbst, er habe das Ganze des Buches im Gefühl immer gegenwärtig. Warum also hat er Narziß ausgelassen?«
»Aus welchen Gründen auch immer. Jedenfalls fehlt dieser Teil. Was du Biographie nennst, ist in einem einzigen Satz zusammengefasst: Ich bin nicht sein Nachfolger, ich bin erst seit einem Jahr Abt.«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Du irrst dich.«
»Karla, über seinen Lebenslauf gibt es nur diesen einen Satz mit nur einem Komma. Wenn du ihn ergänzen willst, dann, um es mit Narziß’ Worten zu sagen: Es ist rasch berichtet. Abt Daniel ist vor acht Jahren gestorben, ohne Krankheit und Schmerzen. Ich bin nicht sein Nachfolger, ich bin erst seit einem Jahr Abt. Sein Nachfolger wurde Pater Martin .
Schluss aus – nichts mehr. Es wird nicht gesagt, welches Amt oder welche Ämter Narziß in der langen Zwischenzeit innehatte, ob er beispielsweise der Sekretär des Abtes wurde oder politische Aufgaben als Gesandter des Klosters übernommen hatte. Vieles Wichtige wurde ja im Mittelalter nicht schriftlich, sondern durch Boten persönlich und im Geheimen überbracht und verhandelt. Narziß könnte nach Rom gepilgert oder in einer Mission geschickt worden sein. Dass Hesse dies sehr wohl in Erwägung hätte ziehen können, wird deutlich am Benediktinerpater Jakobus in Hesses großem Werk Das Glasperlenspiel . Bei Pater Jakobus laufen politisch alle Fäden zusammen, er vertritt außenpolitisch die Angelegenheiten des Ordens.
Also, bei Narziß – nichts anderes als ein langes Leerzeichen.«
»Hm«, kommentierte Karla, ziemlich unzufrieden mit Bernds Antwort. Sie nestelte in ihrer Jackentasche nach ihrer Zigarettenpackung und ihrem Feuerzeug, blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an, ging rauchend weiter, blieb nachdenklich wieder stehen.
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