Naja, dachte er, schließlich hat sie reiche Eltern.
»Also«, fuhr Karla fort in dem Bedürfnis, endlich einmal darüber zu sprechen. »In Wirklichkeit ging es mir damals als Schülerin hundsmiserabel und ich wusste gar nicht, wie ich da wieder rauskommen sollte. Da bin ich, meine Eltern waren glaube ich in Paris und mein Bruder hat schon studiert, da hoffte ich, dass ich in der wilden rauen Natur am Meer zu mir selbst finden könnte und bin Ende März nach Sylt getrampt. Hesses Steppenwolf , dieses Buch voll verzweifeltem Lebensüberdruss und Ekel vor der Seichtheit der Zeit und der Gedankenlosigkeit der Menschen in der Tasche.«
»Na, Sylt ist nicht gerade die Insel, um der Leere und Partys zu entgehen«, wandte Bernd ein.
»Ich war nicht im Schickimicki Kampen, sondern in der Jugendherberge in List. Um die Jahreszeit war fast kein Mensch da. Die erste Nacht habe ich ganz allein in einem 6- Bett-Zimmer geschlafen. Morgens Frühstück an einem langen blank geschrubbten Tisch, eine große Blechkanne mit dem typischen roten Jugendherbergstee vor mir. Nachmittags kam auch so eine Hoffnungslose dazu, Evelyn aus Ulm. Mit der habe ich dann endlose Spaziergänge gemacht. Jedenfalls schlug sie mir vor, mit ihr und zwei anderen Jungen in den Sommerferien mit dem Auto nach Italien zu fahren. Kurz bevor wir dann im Sommer starteten, habe ich mir in einer Ulmer Buchhandlung Hesses Siddhartha gekauft. Dann ging es ziemlich zügig bis nach Sorrent, wo wir mitten in der Nacht ankamen. Der Campingplatz hatte noch nicht geöffnet. Evelyn und die Jungen haben sich irgendwo in ihrem Schlafsack zum Pennen hingelegt. Ich aber habe mir von der Terrasse eines Cafés einen Stuhl genommen, ihn unter eine Straßenlaterne gestellt und Siddhartha gelesen. Von Zeile zu Zeile bin ich in mir glücklicher, ja glücklich geworden. Ich habe damals durch Hesse erkannt, dass wir einsam sind und bleiben müssen, dass der Weg zu uns selbst nur in uns ruht und gegangen werden muss.«
Bernd verschluckte sich fast, dachte an die Aktfotos an der Wand, das Hochbett und den roten Samtsessel und äußerte sich nicht. Es war ihm unangenehm, von Karla mehr zu erfahren, als ihm zustand.
Auch ihr war es peinlich, sie stand auf, ging zur Toilette und kam mit einer arroganten, abweisenden Miene zurück, fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzes schwarzes Haar, schaute in einen der goldumrandeten Wandspiegel, wischte einen Krumen vom weißen Tischtuch und setzte sich.
»Und was verbindet dich eigentlich mit Hesse?«, fragte sie herausfordernd.
»Ich habe meine Examensarbeit über ihn geschrieben. Genau genommen über Narziß und Goldmund .«
»Sehr originell. Hesse ist der weltweit meistgelesene Autor.«
Bernd zuckte die Achseln. »Es hat mich halt interessiert und, wie gesagt, ich wollte weg vom Politischen. Und Narziß und Goldmund ist eben unpolitisch, so dachte ich jedenfalls, insbesondere weil es im Mittelalter spielt und im Zentrum zwei Menschen stehen, die diametral entgegengesetzte Existenzweisen versinnbildlichen: die vita contemplativa und die vita activa. Narziß verkörpert, ich möchte es einmal modern ausdrücklichen, den Intellektuellen, den Geistigen und dabei den Asketen. Goldmund hingegen ist demgegenüber der Lichte, er verkörpert den Sinnlichen, den Erotischen, den Künstler. Diese sich eigentlich abstoßenden Existenzweisen schließt Hesse durch das Band der Freundschaft zu einer harmonischen Einheit zusammen. Darüber hinaus hat sich Hesse in seinem Werk ja schon früher mit der Möglichkeit des Menschen, seine Sinnlichkeit zu leben, auseinandergesetzt, auch mit seinen Hemmungen. Hier aber gelingt es ihm, den sinnlich begabten Mann, sozusagen den Casanova, als Idealgestalt zu fokussieren und ihm gleichzeitig Lebendigkeit, Individualität zu verleihen. Wenn du noch irgendwie etwas Politisches darin sehen willst, so ist es die sexuelle Revolution, die nun in aller Munde ist. Übrigens hat man bei der Anhörung diesen Aspekt nicht unerwähnt gelassen.«
Karla kommentierte Bernds Erklärung mit einem »Hm«, zündete sich eine Zigarette an und blickte dem Rauch nach. Schließlich sagte sie: »Ich habe eigentlich so ziemlich alle Werke von Hesse gelesen, nur gerade Narziß und Goldmund nicht . «
»Das ist ziemlich verwunderlich, in Deutschland ist Narziß und Goldmund Hesses beliebtestes und meistverkauftes Buch«, konterte er ihren Einwand, über Hesse zu schreiben, sei nicht originell.
»Also gut, dann erzähl mir mal von deinem Liebeskünstler und seinem asketischen Gegenteil.«
»Im Ernst?«
Karla nickte.
»Die Erzählung spielt wie gesagt im Mittelalter. Als einzigen zeitlichen Hinweis finden wir die Pest. Wir können also annehmen, dass die erste europäische Pestwelle gemeint ist, also die Zeit um 1348. Die Handlung beginnt in einem Kloster, Mariabronn, wobei Hesse das ehemalige Zisterzienserkloster Maulbronn, das zu Hesses Zeit evangelisch theologisches Seminar war, im Blick hatte.«
»Von dem er als 14-Jähriger ausgerissen ist«, bemerkte Karla.
»Dieses Motiv des Fortlaufens, der Flucht greift Hesse in der Erzählung auf. Aber eins nach dem anderen. Goldmund, der Junge heißt wirklich so, wird von seinem strengen, unnahbaren, kalten Vater nach Mariabronn gebracht, auf dass er nicht nur die Schule dort besuche und dann ins tätige Leben gehe, sondern um Mönch zu werden. Goldmund hat sich den Zielen seines Vaters ganz untergeordnet, ja strebt mit seinem ganzen Willen danach, sie zu verwirklichen, insbesondere da er Narziß, einen nur wenige Jahre älteren Novizen, mit Hingabe und Liebe bewundert. Narziß wird beschrieben als schöner Jüngling mit höfischen Manieren, der ein elegantes Griechisch spricht. Goldmund wirbt um Narziß’ Liebe und Anerkennung, die er meint, nur durch unermüdlichen Fleiß erwerben zu können. Narziß hingegen erkennt die mächtigen Urtriebe in Goldmunds Wesen und lenkt ihn, diese zu bejahen, was allerdings erst durch die Katastrophe, den Zusammenbruch Goldmunds möglich wird. Ohne sich über die Konsequenzen klar zu sein, sagt Narziß eines Tages, Goldmund habe seine Kindheit vergessen. Damit bricht die Erinnerung an Goldmunds geliebte, schöne Mutter auf, die Mann und Kind verlassen hat, um ein flüchtiges, den Sinnen hingegebenes Leben zu führen.
Im Alter von ungefähr 18 Jahren wird Goldmund ausgeschickt, um Kräuter zu sammeln, wird dabei von einer Zigeunerin verführt, worauf er nachts dem Kloster entflieht, allerdings nicht ohne vorher von Narziß Abschied zu nehmen, der sich mit strenger Askese und Kontemplation auf die ewigen Gelübde vorbereitet.
Es beginnt für Goldmund ein Leben, das vom Erzähler mit den Worten: Geschlecht, Frauenliebe, Unabhängigkeit, Wanderschaft zusammengefasst wird. Es wird eine Episode bei einem Grafen dargestellt, zu dessen Tochter Lydia Goldmund ein inniges erotisches Verhältnis hat, fast so etwas wie Liebe, das für ihn aber zu keiner Erfüllung kommt und letztlich durch die eifersüchtige jüngere Schwester zerstört wird. Goldmund muss fliehen, die Natur, der Winter, der Hunger, die Kälte werden beschrieben, die kurze, flüchtige Liebe zu Frauen. Die Schuldproblematik wird zwar angerissen, Goldmund tötet einen Landstreicher, der ihn berauben will und ihn getötet hätte, jedoch gleichzeitig wird die Schuld verharmlost, weil es Selbstverteidigung war.
Nach Jahren der Wanderschaft fällt sein Blick auf eine hölzerne Madonna, die ihn zutiefst berührt. Verwandelt tritt Goldmund aus der Kirche, er hat zum ersten Mal ein Ziel, nämlich den Meister zu finden, der diese Madonna geschnitzt hat, und selbst eine solche Figur anzufertigen, Künstler zu werden. Er wird vom Meister Niklas in einer namentlich nicht genannten Stadt, es könnte jedoch Würzburg sein, aufgenommen und unterwiesen, nicht als Lehrling, sondern als begabter, vielleicht genialer Künstler. Von dieser Zeit heißt es, sie sei die fröhlichste und unbeschwerteste in Goldmunds Leben gewesen, von außen käme ihm die reiche Bischofsstadt mit allen Künsten, Frauen, mit hundert angenehmen Spielen und Bildern entgegen. Er liebt insbesondere die jungen Mädchen, er ist aber gegen die Schöne nicht liebevoller als gegen die Unschöne. Es heißt von Goldmund, er liebe niemals halb. Dabei gibt es Frauen, die ihn erst nach drei oder zehn Liebesnächten an sich bänden, und andere, die von ihm schon nach einer Nacht vergessen werden, weil sie ihm nichts mehr zu bieten hatten.«
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