»So ein Schwein«, entfuhr es Karla.
»Ja und nein. Ich habe viel darüber nachgedacht. Er hat Angst, sie alle haben Angst, dass auch sie erfasst werden und Berufsverbot erhalten. Das ist ja der Sinn des Radikalenerlasses, einige zu vernichten, um alle zu treffen und zu Duckmäusern zu machen.«
»Ja, wohl wahr«, seufzte sie. »Deutschland wird ein Totenhaus. Das steht fest«, fügte sie entschieden hinzu. »Aber unser reformfreudiger linker SPD-Bundeskanzler Willy Brandt hat sich ja nicht einmal durch einen Brief von dem bekanntesten Christen Deutschlands, von Helmut Gollwitzer, erweichen lassen. Nicht einmal dessen Warnung, dass die ganze junge Generation zum Verstummen gebracht wird, hat irgendwie das Gewissen dieser Politiker berührt.«
»Hör mir auf mit Gewissen, das ist was für dämliche Idealisten.«
Sie warf einen Blick auf Bernd, wie er aschfahl und verbittert mit seiner Zahnbürste und seinem Handtuch vor ihr stand.
»Genug geschwätzt. Ich bringe dich morgen mit meiner Ente dahin.«
»Gut geschlafen?«, fragte Karla fünf Stunden später, als sie durch das nächtliche Berlin fuhren, in dem für kurze Zeit der Verkehr fast zum Erliegen gebracht schien.
»Seh ich so aus?«, erwiderte er und fand sich reichlich unhöflich. Schließlich hatte sie ihn geweckt und sogar einen Kaffee oben ans Hochbett gebracht.
»Du siehst gut aus«, bemerkte er, um etwas Nettes zu sagen.
»Ach was, nur Jeans und blauer Pullover«, erwiderte sie lächelnd.
Stumm saß er neben ihr, schaute zu den Häusern hinauf, nur selten brannte irgendwo ein Licht.
»Ich kann eigentlich überhaupt nicht mehr schlafen, seitdem mir das passiert ist«, begann er mühsam. »Sobald ich mich hinlege, flattern meine Nerven, besonders in den Armen. Ich merke jeden Nerv einzeln, wie er vibriert. Geht dir das manchmal auch so?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort.
»Ich fühle mich wie eine Scholle.«
»Häh, du spinnst.«
»Wirklich. Du kennst doch im Fischgeschäft diese Bassins, in denen hinter einer Glasscheibe Dorsche, Schollen, kleine Aale und Heringe dichtgedrängt so was wie schwimmen, sich kaum bewegen können.«
Karla nickte. »Ich mochte als Kind da nicht mit hineingehen, weil die Fische mir so leid taten.«
»Also, ich fühle mich wie eine solche Scholle. Da kommt dann ein Herr mit Hut, Mantel und Fliege, zeigt auf mich, also auf die Scholle. Mit festem Griff packt die Fischhändlerin den Fisch, gibt ihm einen Schlag mit dem Holzhammer auf den Kopf, schneidet unversehens mit einem scharfen Messer den Kopf ab und nimmt mit dem Finger die Gedärme heraus. Der Fisch zappelt, er krümmt sich, alle Nerven vibrieren, denn er ist doch immer noch ein Fisch. Sie aber wickelt ihn in Fettpapier und dann noch in rosa Einwickelpapier und der Mann läuft eilends zu seiner Frau in die Küche. Die nimmt die zappelnde Scholle, salzt sie ein, wendet sie in Ei und Paniermehl, erhitzt die Butter, dass sie brutzelt, und legt den Fisch in die heiße Pfanne. Die Scholle aber springt aus dem siedenden Fett, die Hausfrau ergreift sie und legt sie wieder in die Pfanne. Die Scholle krümmt sich vorne und hinten, bäumt sich auf, denn die Nerven sind immer noch lebendig. Die Frau drückt sie mit dem Küchenfreund nieder, denn sie soll ja platt und braun und knusprig werden. Irgendwann hört die Scholle auf zu zappeln, dann ist sie tot.«
»Unsinn, der Vergleich stimmt nicht. Du sagst es ja selbst, die Scholle soll schön knusprig werden. So eine Scholle ist eine Delikatesse.«
»Siehst du, nicht einmal dazu bin ich noch gut. Ich bin ungenießbar. Mich will keiner mehr haben. Ich bin zu nichts mehr nütze und meinen Kopf hat man abgeschnitten mit allem, was ich gelernt habe. Meine flatternden Nerven werden sich irgendwann nicht mehr auflehnen und ich werde ganz stumm werden. Ich lande auf dem Müllplatz der Geschichte.«
»Wir sind gleich da«, bemerkte Karla trocken und bog in eine enge Straße mit Mietshäusern aus der Kaiserzeit ein. »Zeig mir mal, wo der Kohlenkeller ist. Ziemlich schwierig, einen Parkplatz zu finden. Die Bourgeoisie schläft noch und alle ihre piekfeinen Autos verstellen uns ein hübsches Plätzchen. Na, stehen wir eben im Halteverbot«, riskierte sie und öffnete die Wagentür.
»Nein, fahr weiter. So wichtig sind die Sachen auch nicht.«
»Immerhin so wichtig, dass du extra nach Berlin gefahren bist, um sie zu holen. Was ist es denn, was du aus dem Kohlenkeller holen willst?«
»Vier Plastiktüten voll mit Büchern von Hermann Hesse. Aber, wie ich schon sagte, so wichtig sind sie mir nicht. Das wird mir jetzt klar. Hermann Hesse hat mir nichts genützt. Nachdem ich dieses ›wundervolle‹ Erlebnis mit der Ensslin und Ulrike Meinhof in der Mensa hatte, habe ich mich von jedweden politischen Aktionen ferngehalten und mich stattdessen auf mein Innenleben konzentriert. Ich habe die Bücher von Hesse nur so verschlungen. Aber, du siehst, auch das hat mir nicht geholfen. Fahr mich einfach zum Bahnhof.«
»Ach, was. Hermann Hesse ist mein Lieblingsdichter. Raus hier, holen wir uns seine Bücher.«
»Hermann Hesse«, begann Karla beinahe träumerisch, als sie rund eine Stunde später ihren Kaffee umrührte, während Bernd es kaum fassen konnte, dass er sich jetzt nicht mit den vier Plastiktüten zum nächsten S-Bahnhof abschleppte, sondern avantgardistisch in der Kantstraße im Schwarzen Café saß, das zu dieser nachtschlafenden Zeit schon geöffnet hatte.
»Weißt du, was mir Hesse bedeutet«, fuhr sie fort. »Das war schon in der Schulzeit so. Immer wenn ich ein Buch von ihm gelesen habe, dann war mein Leben der Sinnlosigkeit und der Einsamkeit entrissen und ich hatte es wieder ein Stück weit für mich gewonnen.«
Bernd sah verwundert von seinem Frühstücksteller hoch.
»Du hast doch wohl alles von Hermann Hesse gelesen?«
Er nickte kauend.
»Mir ging es wie dem Musiker Kuhn in Hesses Roman Gertrud «, erklärte Karla. »Der ist vor seinem Unfall und bevor er ein Krüppel wird, mitten in so einer Clique, hat Spaß, ist sogar so was wie der Hahn im Korb. Aber innerlich ist er ausgelaugt, entfernt sich immer weiter von sich selbst, wird sich selbst zuwider und ist inmitten der Lustigkeit einsam. Schrecklich einsam.«
Bernd sah Karla verdutzt an und verkleckerte etwas von der Marmelade, die er auf sein Mohnbrötchen streichen wollte.
»Du und einsam? Ich bitte dich. Das könnte man wohl eher von mir sagen, weil ich nicht zur Blankeneser High Society gehörte. Du warst doch auf allen Partys immer dabei.«
»Sei nicht albern und verbittert. Was weißt du schon von meinem Innenleben. Nein, ganz ernsthaft gesprochen. Es hat mich damals angeekelt, dieses seichte Getue, diese Markenklamotten, und selbst die Lehrer, manche zumindest, fielen darauf rein und bewunderten und beneideten das Image und das Geld, das hinter uns oberflächlichen Gören stand. Und dann sollten wir ständig über ethische Themen schreiben und wie wir Eitelkeit und Streben nach Geld und Macht verachten sollen. Mich hat das aufgeregt und angewidert. Jetzt als Journalistin schreibe ich natürlich auch häufig seichtes Zeug, ich schreibe regelmäßig für eine Wurfzeitschrift unter dem Pseudonym Simone Müller, aber bisweilen gelingt mir auch ein Artikel, den ich selbst achte. Über das Zechensterben im Ruhrgebiet und über die Armut alter Menschen in Berlin habe ich vor kurzem einen Artikel in der ZEIT veröffentlichen können.«
»Hast du denn keine Angst, mit mir hier zu sitzen? Ich meine, auch dir könnten Nachteile daraus erwachsen. Als Journalistin bist du angreifbar, besonders wenn du nur freie Mitarbeiterin bist. Fürchtest du dich nicht vor Ansteckung?«
»Du mit deiner Pest«, amüsierte sie sich. »Nein, ich habe meine Prinzipien. Eines heißt: Zivilcourage. Aber lassen wir das.«
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