»Es ist reichlich kalt draußen. Aber meinetwegen«, sagte Karla und kam von ihrem Sofa hoch. »Hörst du, wie es regnet?«
Auch Bernd stand auf, stellte sich neben Karla ans Fenster, atmete tief die kühle Luft ein.
»So, jetzt ist es genug. Sonst erfriere ich. Erzähl lieber weiter.«
Folgsam setzte er sich wieder.
»Von Tag zu Tag wurde ich nervöser, besonders als andere Freunde eine positive Antwort erhielten. Kennst du das Gefühl, du wartest auf einen Anruf oder auf einen Brief und weißt genau, da kommt nichts. Jeden Tag habe ich auf den Postboten gelauert, bin zum Briefkasten gehetzt und wusste genau, da ist kein Brief für mich drin.«
Ohne es selbst wahrzunehmen, griff Bernd nach ihrer Zigarettenpackung und zerknüllte sie zwischen seinen Fingern.
»Mensch, da ist noch eine drin.«
»Tut mir leid.« Er schwieg und sein Gesicht war so eingefallen und grau, dass Karla meinte, alles, sein ganzes junges Leben tue ihm leid. Dann raffte er sich auf:
»Ende November erhielt ich von der Senatsverwaltung die Vorladung zu einer Anhörung, da ›Erkenntnisse‹ über mich vorlägen.«
»Erkenntnisse?«, wiederholte sie skeptisch.
»Anhörung, weißt du, was das bedeutet? Oh, die Sprache kann so verlogen sein. Anhörung bedeutet ein Verhör, das bereits Teil des Verfahrens ist. Bedeutet, du bist verurteilt, bevor du überhaupt gehört wurdest.
Überpünktlich erschien ich zu dem anberaumten Termin. Ging im Gang auf und ab. Da kam so ein junger smarter Typ mit Fliege auf mich zu, ich vermute Gerichtsreferendar, und bemerkte hämisch: ›Die hier warten, zittern alle vor Angst.‹
Ich sage dir, ich hätte ihm am liebsten eins in die … du weißt schon geschlagen. Natürlich habe ich geschwiegen. Vielleicht war das ja auch eine bewusste Provokation und gehörte mit zum Verfahren. Dann wurde ich hereingerufen und konfrontiert mit Vorwürfen aus mir nicht bekannten Berichten, aus denen man meine Gesinnung meinte ableiten zu können. Stell dir vor, ich war überwacht worden – und habe davon nichts geahnt. Jedenfalls musste ich zu den Anschuldigungen Stellung beziehen. Faktisch waren alle Punkte korrekt, nur die Interpretation stimmte nicht.«
»Was hat man dir denn vorgeworfen. Wofür warst du angeklagt?« Karla konnte die Spannung kaum in ihrer Stimme zurückhalten.
»Kontakt zur Terrororganisation Rote Armee Fraktion, zu Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, um es genau zu sagen.«
Karla starrte ihn an und schüttelte den Kopf.
»RAF? Neee.«
»Diese, diese«, er rang nach einem Schimpfwort. »Diese Leute vom Verfassungsschutz haben mein ganzes Leben so gedeutet, als liefe es zielstrebig auf Terrorismus hinaus.
Du glaubst es nicht, meine Vorliebe für Karl Jaspers hat man mir vorgehalten. Was ich tatsächlich an ihm schätze, ist seine menschliche und philosophische Humanität. Menschenwürde ist für ihn kein Abstraktum, sondern Grundfeste menschlicher Existenz. Beeindruckt hat mich Jaspers’ tiefe Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht hat, zu sich selbst zu finden. Sein philosophischer Grundgedanke, dass Existenz keine Form des Seins, sondern eine Form menschlicher Freiheit ist, in der sich der Mensch für seine Möglichkeit entscheidet und sich gegen sein Resultatsein wendet, hat mich fasziniert. Möglichkeit, Karla! Ich habe keine Möglichkeiten mehr. Ich bin mit meinen 27 Jahren am Ende. Weißt du, was das offizielle Ziel des Berufsverbotes ist? Materielle Existenzvernichtung! Als könnte man ›nur‹«, betonte er höhnisch, »die materielle Existenz vernichten.«
Hoffentlich tut er sich nichts an, durchfuhr es sie. Laut sagte sie: »Ich brauche einen Kaffee. Magst du auch einen?«
»Ja, danke«, antwortete er zerstreut. »Die Mitmenschen sind für Jaspers nicht störendes Element der Existenz, sondern umgekehrt, nur in der Kommunikation, im Zusammen der Menschen kann sich Existenz verwirklichen. Jaspers wagt es bei aller philosophischen Präzision sogar von Liebe zu sprechen. Dass aber die politische Elite das Volk, das doch nach dem Grundgesetz der Souverän ist, als Störung behandelt, dieser Kritik Jaspers’ habe ich zugestimmt.«
Karla schüttelte ungläubig den Kopf, während sie das Kaffeepulver aus dem Schrank nahm. »Karl Jaspers ist weltweit anerkannter Philosoph und hat den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten.«
»Tja, aber er trennt nicht die Philosophie von der Politik. Und da übt er heftigste Kritik.
Also, Grundlage des Verfahrens und der Deutung meiner politischen Aktivitäten war Jaspers’ Buch: Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen – Gefahren – Chancen sowie ein langer Artikel von ihm im SPIEGEL, den ich für die Fachschaft Philosophie letztlich nur zusammengefasst und kaum kommentiert habe. Jaspers geht darin vom Widerstandskämpfer Stauffenberg aus, der für eine Ordnung gekämpft hat und gestorben ist, in der alle Deutschen, also jeder Einzelne Träger des Staates ist. Dieses Ziel sieht Jaspers keineswegs in der Bundesrepublik verwirklicht, im Gegenteil. Es handelt sich heute um eine Parteienoligarchie, in der allerdings nicht einmal das einzelne Parteimitglied Möglichkeiten der Einflussnahme hat. Für Jaspers heißt Parteienoligarchie Verachtung des Volkes, Verachtung des Menschen. Sie neigt laut ihm dazu, dem Volk Informationen vorzuenthalten. Man will es lieber dumm lassen. Das Volk brauche auch die Ziele nicht zu kennen. Stattdessen werde es mit Phrasen abgespeist. Jaspers wirft den Politikern Schamlosigkeit vor, sie fordern Respekt, insbesondere Kanzler, Minister, Amtspersonen. Wir, so denkt diese Elite, sind durch die Wahl des Volkes geheiligt. Kraft unserer Ämter haben wir die Macht und den Glanz, der uns zukommt. Und Jaspers sieht nur einen kurzen Schritt von der Parteienoligarchie zur Diktatur. Dagegen muss sich nach Jaspers das Volk wehren und selbst die Verantwortung übernehmen: In seinem Artikel fällt das Wort Gewalt: Gegen die Freigabe der Gewalt an eine absolute Herrschaft kann nur noch die Gewalt ein Schutz sein .
Mit diesem Satz von Jaspers hatten sie mich natürlich. Und darauf bauten alle weiteren Anklagepunkte auf: Meine Teilnahme an Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhung, gegen den Vietnamkrieg, gegen die Notstandsgesetze, den Schahbesuch, für die Rechte der Frau. Mein Protest gegen die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Berliner Polizisten.«
»Naja, wer hat nicht dagegen demonstriert?«, wandte Karla ein. »Ich habe mich sogar an dem Trauermarsch durch die DDR, pardon, durch die sowjetisch besetzte Zone beteiligt, weil Benno nicht in Berlin, sondern in seiner Heimatstadt beigesetzt werden sollte. Es war natürlich sehr verdächtig, dass die Grenze so bereitwillig geöffnet wurde für uns Protestler.
Aber das ist ein anderes Kapitel. Was hat man dir denn noch vorgeworfen? Du warst doch gar nicht in einer kommunistischen Gruppe oder Partei?«
»Parken. Ganz im Ernst. Ich hatte für kurze Zeit einen alten VW-Käfer und den habe ich, ohne dass ich es gewusst habe, in der Nähe einer Versammlung der Kommunistisch- leninistischen Partei Deutschlands abgestellt. Ich hatte bei dem Verhör überhaupt keine Erinnerung mehr an diesen Tag und mir fiel auch gar kein Alibi ein, was ich wohl gemacht haben könnte.«
Er schwieg und es war Karla, als grübelte Bernd immer noch darüber nach.
»Dazu hatte ich mal eine Freundin in Göttingen«, er räusperte sich, was Karla mit gleichgültigem Gesicht zur Kenntnis nahm. »Also, Gudrun wohnte neben dem Roten Buchladen. Und da wurden alle gefilmt, die daran vorbeigingen. Wenn du aber dazu noch stehen bliebst und dir die Plakate und Bücher anschautest, dann war das wieder ein Nagel zum Sarg Berufsverbot.«
Karla schob ihren Teller mit ihrem abgenagten Hähnchen beiseite und warf ein: »Irgendwie kann ich es noch nicht glauben, dass dies alles ein Berufsverbot rechtfertigt.«
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