»Dichtung«, bemerkte Karla skeptisch belehrend.
Am Nachbartisch räusperte sich auffällig ein korpulenter Herr.
Erschrocken sahen sich Bernd und Karla zu ihm um.
»Verzeihen Sie, ich möchte mich nicht in Ihr Gespräch einmischen. Aber bei Hermann Hesse kann ich halt nicht weghören.«
Der fremde Herr rückte seinen Stuhl näher heran und beugte sich zu Bernd und Karla vor. Leise sagte er: »Meine Herrschaften. Keine Sorge. Ich weiß nicht genau, was Sie vorhaben. Es klang etwas geheimnisvoll. Was es auch immer sei, Hesses Antwort darauf lautet gewiss, Sie müssen Ihren eigenen Weg finden, ohne irgendjemanden, und sei es der Dichter selbst, um Erlaubnis zu bitten.«
Er setzte ab und schwieg, nahm dann sein Weinglas, betrachtete es und lobte: »Dies ist ein verlässlicher Rotwein, wie Hermann Hesse ihn geschätzt hätte.«
Er prostete Karla und Bernd zu und blickte sie dabei aufmunternd an.
Auch sie erhoben verdutzt ihr Glas.
»Um Ihnen die Sache zu erleichtern, möchte ich Ihnen Folgendes erzählen. Nach etwas mehr als 20 Jahren, also so um 1953, las Hermann Hesse Narziß und Goldmund zum ersten Mal wieder. Es war ein freundliches und wohltuendes Wiedersehen, und nichts in dem Buche forderte ihn zu Tadel und Reue auf. Nicht dass er mit allem ganz und gar einverstanden gewesen wäre, das Buch hatte natürlich Fehler.«
Hier lächelte der Herr mit einem wissenden Ausdruck: »Und es schien ihm, wie beinah alle seine Schriften beim Wiederlesen nach sehr langer Zeit, ein bisschen zu lang, ein wenig zu gesprächig, es war vielleicht zu oft das Gleiche mit etwas anderen Worten gesagt. Doch der Tonfall dieser Dichtung, ihre Melodie, das Spiel der Hebungen und Senkungen, war ihm nicht entfremdet und schmeckte nicht nach Vergangenheit und abgewelkter Lebensepoche, obwohl Hesse die Leichtigkeit des Flusses nicht mehr aufzubringen fähig gewesen wäre.«
Bernd und Karla atmeten erleichtert auf, insbesondere das Wort ›Fehler‹ trug sehr zu ihrer Ermutigung bei. Und dann ging es doch um Tonfall, um Melodie, es ging um Narziß. Es ging um Narziß, den edlen, den zum Herrscher geborenen, den Einsamen.
»Nun aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen, denn deswegen, nur deswegen wollte ich gerne Ihre Bekanntschaft machen. Also die Frage, wie Hermann Hesses Botschaft für die Menschen lautet, ist mit zwei Worten beantwortet:
ßzßKEIN KRIEG!«
Dem Freund, der Blinde sehend macht
Bad Eilsen, 2. September 1936
Im Kloster Mariabronn waltete eine eherne ewige Ordnung. Welcher Kaiser auch herrschte, ob er Huld und Milde walten ließ oder ob er ein ungerechtes Regiment führte und seine Untertanen knechtete, ob Frieden über dem Reich glänzte oder Kriegsscharen plündernd umherzogen, ob die Ernte in Fülle eingebracht wurde oder faulende Münder Hunger und Tod spuckten; welcher Papst den Heiligen Stuhl auch innehatte, ob er fromm und gottesfürchtig das ihm anvertraute höchste Amt auf Erden erfüllte oder über Kaiser, König, Fürsten und Volk despotisch Macht ausübte, ja, wer auch immer Abt war, ob hart und streng und selbstherrlich oder voller Güte, voller Einfalt, voller Demut war, so hatte die Ordnung des Klosters durch alle Wechselfälle und Zeiten einen Namen: Sie hieß Gehorsam.
So auch jetzt, da der weise alte Abt Daniel dem großen Kloster wie ein Heiliger vorstand.
Wenn auch die Zöglinge, die Novizen, die Mönche gehorsam waren, so verkörperte allein Narziß den vollendeten Gehorsam. Dieser Wunderknabe, dieser schöne Jüngling mit dem stillen, eindringlichen Denkerblick war vollkommen. Er nahm jeden Befehl, jeden Rat, jedes Lob des Abtes mit vollkommener Haltung entgegen, widersprach niemals, war nie verstimmt.
Umso mehr erstaunte es den Abt und erregte seinen Unwillen, als zwischen Narziß, obgleich er als Lehrgehilfe und Novize unten in der Hierarchie des Klosters stand, ein Zwist mit dem ihm vorgesetzten Pater Lorenz entsprang und hartnäckig von Narziß fortgeführt wurde. Es ging um eine Erneuerung des Griechischlehrplanes, zu der Narziß den Älteren und Erfahreneren bewegen wollte, um Verbesserungen, die er mit zwingenden Gründen zu verteidigen wußte. Pater Lorenz aber, sei es aus gekränkter Eitelkeit, sei es aus Überzeugung, beharrte auf Tradition und Gewohnheit. Die Sache kam vor den Abt, der hörte sich zwar geduldig die Auffassungen der beiden Gelehrten an, aber es war Narziß, der zurechtgewiesen wurde:
»Wenn sein Vorgesetzter anderer Meinung ist, so hat Narziß zu schweigen und zu gehorchen, und alle Verbesserungen der Schule wögen es nicht auf, wenn Ordnung und Gehorsam in diesem Hause gestört würden. Ich tadle Narziß, daß er nicht nachzugeben wußte.«
Sehr scharf achtete Abt Daniel darauf, ob zwischen den beiden Lehrern und Kontrahenten ein gutes Einverständnis bestehe, ob insbesondere Narziß sich einem Urteil unterwerfen würde, von dessen Richtigkeit er gewiß nicht überzeugt war. Abt Daniel konnte beruhigt sein, Narziß fügte sich gänzlich. Die immerwährende Ordnung des Klosters stand über allen Neuerungen, so sinnvoll sie auch sein mochten.
Gleichwohl kehrte die Ruhe, der immerwährende ereignislose Friede nicht zurück. Mit dem Zögling und Schüler Goldmund, diesem blühenden Knaben mit dem hellblonden Haar und den langen blonden Wimpern, war eine neue Beunruhigung ins Kloster getreten. Mit Besorgnis, ja mit Bangigkeit beobachtete Abt Daniel, daß der sonst unnahbare Narziß mit diesem Jungen, der noch dazu sein Schüler im Griechischen war, Umgang pflegte, ihn offenbar zu leiten wußte. Wohin, zu welchem Ziel?
Zur Krankheit? Zum Zusammenbruch? Zum Tod? Nie hatte Narziß dem Abt so wenig gefallen wie an dem Tag, als Goldmund gleich einem Toten im Kreuzgang aufgefunden wurde und Narziß derjenige war, der diese Krise durch sein Reden herbeigeführt hatte.
Vor sich selbst urteilte Abt Daniel, daß Narziß’ Gedanken und Anschauungen alle so etwas unangenehm Überlegenes, ja fast Feindseliges hätten. Weiß Gott, ob er hinter der Maske des Gehorsams Schlimmes verbarg, vielleicht ein Heide war?
Was wußte er, was wußte überhaupt irgendjemand von Narziß, dessen Vornehmheit ihn wie eine erkältende Luft umgab.
Nur mit Goldmund, diesem blühenden Jüngling, führte er vertrauliche sonderbare Gespräche, die den Jüngeren von seinem Wunsch, später einmal Mönch zu werden, immer mehr abzubringen schienen. Doch auch diese Gefahr schien vorüber, denn Narziß hatte sich, nachdem er Mönch geworden war, vom Lehramt beurlauben lassen und, ehe er die Weihen erhielte, sich für viele Wochen zu Fasten und Exerzitien zurückgezogen. Er sprach kein weltliches Wort mehr, mit niemandem, auch mit Goldmund nicht. Sein Lesepult in der Bibliothek blieb leer. Narziß war noch da, er war nicht völlig unsichtbar, man konnte ihn bisweilen den Kreuzgang durchschreiten sehen, konnte ihn manchmal in einer der Kapellen murmeln hören, auf dem Steinboden kniend, man wußte, daß er die große Übung angetreten hatte, daß er fastete und dreimal in der Nacht sich zu Exerzitien erhob. Er war noch da und doch war er in eine andere Welt übergegangen.
So lag Narziß auch an diesem Tag in einer der Büßerzellen im inneren Kloster auf einer schmalen Pritsche. In der Dämmerung glich er einem Toten, wie er starr mit bleichem Gesicht auf dem Rücken lag, die Hände über der Brust gekreuzt. Er hatte die Augen offen und schlief nicht. Narziß bemerkte nicht, wie sich leise die Tür öffnete, wie jemand unerlaubterweise hineintrat und mit einem Male vor ihm stand. Er war so in seiner Versunkenheit gefangen, daß er Goldmund nur aus tiefer Dämmerung wahrnahm und sich konzentrieren mußte, um sich aus dieser Weltenferne herauszureißen, den Freund zu erkennen und ihm zuzuhören, zu verstehen, daß er Abschied nehmen, das Kloster für immer verlassen wollte, um einem Weibe zu folgen. Narziß nannte es spöttisch Verliebtheit. Befremdlich aber war es für ihn, daß Goldmund ihn verbesserte mit Worten, die nicht aus kindlicher Rechthaberei entsprangen, sondern wahr waren. Jene Frau, die Goldmund um Jahre älter gemacht hatte, war nicht sein Ziel, er ging zu ihr, aber nicht ihretwegen. Er ging, weil er mußte, weil die Mutter, die Urmutter ihn rief.
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