»Du hast es ja schon gesehen, Hubertus ist ein Künstler der Fotografie. Aber er verdiente kaum Geld damit, lief sich die Hacken ab, um einen Galeristen zu finden, der endlich seine Bilder ausstellte. Aber ohne Namen und ohne Vitamin B? Also, er war ständig pleite, kellnerte, um sich über Wasser zu halten. Die Miete, die wir eigentlich gemeinsam tragen wollten, hat er fast nie bezahlt. Aber das ist nebensächlich.
Jedenfalls hatte er die fixe Idee, dass mit einer eigenen Galerie auch der Ruhm käme. Und es fand sich, wie er meinte und es wohl auch war, die ideale Gelegenheit: ein repräsentativer Altbau, Nähe Savigny-Platz. Das Haus war zwar ein bisschen heruntergekommen, aber die Belle Etage mit Stuckdecken, Parkett hätte sich wunderbar für eine Galerie geeignet. Hubertus malte mir aus, wie die feine Gesellschaft hier ein immer neues Kunstevent erleben könnte, und er schlug mir vor, unterm Dach, wie einstmals Rahel Varnhagen, einen literarischen Salon zu etablieren. Dazwischen hätten wir dann unsere Wohnung und wären für immer glücklich.«
»Hm«, kommentierte Bernd das Gehörte und wischte die vom Atem beschlagene Scheibe seines Seitenfensters. Er beobachtete, wie einige Paare laut redend und lachend aus einer Gastwirtschaft kamen. Alle trugen dicke Wintermäntel und Hüte. Das Gestänge eines Regenschirms wurde vom Wind umgestülpt, allgemeines Gelächter. Bernd verstand etwas wie ›miese Qualität‹.
»Natürlich, das mit dem Glück habe ich bezweifelt, allein die Sehnsucht danach. Jedenfalls das Haus war für Berliner Verhältnisse nicht zu teuer, aber unbezahlbar für mich. Von Zeit zu Zeit verdiene ich zwar gut für ein Interview, eine aufwändige Reportage, aber letztlich lebe ich von meiner Arbeit für die Wurfzeitung, die mir ziemlich regelmäßige Einkünfte bringt. Ich habe mich bei der Bank nach einem Kredit erkundigt, die Zinsen waren horrend. Ich hätte mich mein Leben lang verschuldet. Jedenfalls rief eines Tages der Makler an, ich war nicht zu Hause, und wollte eine definite Antwort haben, es gäbe noch weitere Interessenten. Hubertus sagte zu! Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um das wieder rückgängig zu machen. Mein Bitten und Flehen beim Makler fand endlich Gehör. Doch die Stimmung zu Hause war eisig. Hubertus bestrafte mich, indem er mich konsequent ignorierte. Nach ein paar Tagen hielt ich es nicht länger aus, stieg zu ihm in sein Hochbett und bettelte, was ich denn für ihn tun könnte. Da antwortete er: Aktfotos. Nein, nur ein einziges Aktfoto. Ich müsste allerdings die Rechte an ihn abtreten.
Kurz darauf war er fort. Und nun macht er Karriere in Düsseldorf, hat Erfolg. Letzte Woche las ich im TAGESSPIEGEL, dass ein argentinischer Haziendabesitzer die Fotos für 250 000 Dollar gekauft hat. Doch bevor sie in seinen Privatgemächern verschwinden, werden sie in Paris, Rom und New York ausgestellt.«
»Das ist doch gar nicht so schlimm«, versuchte Bernd die Sache herunterzuspielen. »Ich kenne das Aktfoto zwar nicht, aber man sieht dich doch nur von hinten. Niemand erkennt dich. Dazu hast du jetzt noch deine Haare kurz geschnitten. Nacktsein ist kein Tabu mehr. Die prüden Zeiten sind vorbei, seit die Kommune 1 sich nackt vor eine weiße Wand gestellt hat, ebenfalls den Rücken dem Betrachter zugewandt. Keine Zeitung, die das Bild nicht gedruckt hätte.«
»So freiwillig war das gar nicht, Kollegen haben mir gesagt, die hätten das gar nicht gewollt. Seien von ihren eigenen Ideen von sexueller Freiheit überrumpelt worden. Betrachte dir das Foto genau. Sie sehen alle sieben so aus, als würden sie jeden Augenblick erschossen.«
»Die Ikone der Emanzipation, Simone de Beauvoir. Von ihr gibt es auch ein Foto, wie sie nackt in einem Hotelbadezimmer steht und sich die Haare macht. Ihr Gesicht sieht man im Spiegel.«
»Danke, dass du mich zu trösten versuchst. Es hilft nicht. Simone de Beauvoir hat unter den ständigen Affären Sartres sehr gelitten. Wer wie sie schreibt, die Frau tue nichts als auf den Mann warten, selbst wenn sie anderweitig beschäftigt ist, der hat sich sexuell nicht befreit.«
»Gut, dann nimm Hermann Hesse selbst. Auch von ihm gibt es ein Foto, das ihn nackt von hinten zeigt. Es ist beim Klettern aufgenommen.«
Karla schüttelte energisch den Kopf.
»Bernd, das macht keinen Sinn für mich. Es mag sein, dass Hesse mit diesem Foto einverstanden war. Meistens sieht man ihn ja im Anzug, sogar oftmals mit Hut. Aber ein Nacktfoto oder Aktfoto verletzt, verwundet nur dann nicht, wenn du es genauso gerne betrachtest wie ein Kinderfoto.«
Er wusste darauf nichts zu antworten. Seine Finger wurden klamm und die Füße in seinen Halbschuhen kalt. Er fühlte seine Müdigkeit.
Entschlossen setzte Karla sich auf. »Ich erzähle dir das nicht, um mein Unglück in alle Ewigkeit zu wiederholen. Im Steppenwolf ist Harry Haller angeklagt, weil er aus seinem Leben eine scheußliche Krankengeschichte gemacht hat. Das habe ich nicht vor. Und das willst du vermutlich auch nicht.«
»Also gut. Fahr los, Karla. Du kennst sicher eine nette Bar. Wie sagt es Hesse:
Der Vogel kämpft sich aus dem Ei . Morgen fangen wir mit Narziß an. Ich mach’s.«
Während Karla Hubertus’ Schreibtischsessel in die Küche trug, allerdings ohne den tiefroten Samtbehang, fragte sie: »Wie nun beginnen?«
Bernd, der schon am Küchentisch saß und sich zu ihr umwandte, fand, dass der Stuhl mit seinen hellgrün gestrichenen Armlehnen und dem gelb geblümten Sitzkissen ziemlich schäbig aussah, wie vom Sperrmüll. Sie schob den Stuhl zu ihm heran an den Küchentisch, auf dem noch zugeklappt Narziß und Goldmund lag. Bernd wunderte sich ein wenig darüber, dass sie, ohne sich darüber verständigt zu haben, es als selbstverständlich ansahen, dass sie weder an Hubertus’ futuristischer Glaskonstruktion noch an Karlas Gutsherrenschreibtisch arbeiten würden. Auch das nostalgische Küchensofa erschien irgendwie unpassend.
»Zunächst lesen wir gemeinsam den ganzen Roman Narziß und Goldmund , so dass wir Narziß kennenlernen«, beantwortete Bernd ihre Frage. »Dabei notieren wir uns die Textstellen, die als Anknüpfungspunkt für eine Story geeignet sind.«
Karla nickte zustimmend, den Kopf über das Buch gebeugt.
»Damit wir aber nicht unserer Fantasie freien Lauf lassen, sondern Hesse schreiben, entwickeln wir die Handlung in Verbindung mit dem Werk Hesses. Hesse hat einmal gesagt, dass für ihn Demian, der Steppenwolf, Siddhartha, Goldmund jeder ein Bruder des anderen, jeder eine Variation desselben Themas sei. Es gibt somit eine Kontinuität zwischen all seinen Werken und Figuren. Das bedeutet für uns, wir suchen Motive, Situationen, Gedanken, Gefühle aus anderen Büchern, die für die Szenen unseres Buches geeignet erscheinen.«
»Das heißt«, schlussfolgerte Karla, Narziß und Goldmund ist unser Ausgangspunkt. Das Manuskript über Narziß hat Hesse danach, also später, verfasst. Wir müssen uns allerdings als erstes überlegen, wann zeitlich Hesse unser Manuskript Narziß ohne Goldmund geschrieben hat, damit wir wissen, welche Werke wir berücksichtigen können.«
»Du sagst es.«
»Also, im Januar 1929 hat Hesse das Schlusskapitel von Narziß und Goldmund beendet. Am 21. Januar hat er die handschriftliche Fassung abgeschlossen.«
»Himmel«, rief Karla entsetzt. »Hat Hesse etwa mit der Hand geschrieben? Eine ganze Erzählung mit der Handschrift Hesses vorzutäuschen, das schaffen wir nie.«
»Nun gib nicht so schnell auf. Hesse hat es abgetippt, jedenfalls gibt es eine Menge Fotos, die ihn an der Schreibmaschine zeigen. Wir müssen allerdings sein Modell herausfinden. Aber wir weichen ab. Im April hat er das Typoskript an seinen Verlag nach Berlin geschickt. Im Juli erfolgte die Korrektur der Druckfahnen, im Oktober der Vorabdruck in Die Neue Rundschau , im August 1930 ist dann Narziß und Goldmund als Buch erschienen. 1929 oder 1930 ist also unser Fixpunkt. 1932 erschien Die Morgenlandfahrt . Von 1932 bis 1942 hat Hesse am Glasperlenspiel gearbeitet.
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