»Du, ich habe keine Zigaretten mehr. Machen wir mal ’ne Pause und gehen kurz zum Automaten.«
»Weißt du, Bernd«, sagte Karla, als sie wieder in der Küche saßen, »was ich besonders schön und gelungen finde, den Kontrast zwischen dem jungen Narziß, der seine extremen, den Leib abtötenden Exerzitien macht, und Goldmund, der zum ersten Mal mit einer Frau geschlafen hat und nun zu Narziß in die Büßerzelle kommt, um Abschied zu nehmen. Die Nacht brach an, Narziß schloß die Zelle hinter sich und ging zur Kirche hinüber, seine Sandalen klapperten auf den Steinfliesen. Goldmund folgte der hagern Gestalt mit liebendem Blick, bis sie am Ende des Ganges wie ein Schatten verschwand, von der Finsternis der Kirchenpforte eingeschluckt, aufgesogen und eingefordert von Übungen, Pflichten, von Tugenden. O wie wunderlich, wie unendlich seltsam war doch alles! Wie seltsam und erschreckend war auch dies gewesen: mit seinem überströmenden Herzen, mit seiner blühenden Liebesberauschtheit zu seinem Freunde gerade in einer Stunde zu kommen, wo dieser meditierend, von Fasten und Wachen verzehrt, seine Jugend, sein Herz, seine Sinne ans Kreuz schlug und zum Opfer brachte und sich der strengsten Schule des Gehorsams unterzog, um nur dem Geiste zu dienen und ganz zum minister verbi divini zu werden. «
»Sagte ich doch«, bemerkte sie schnippisch, »Narziß hat Sex-Appeal, und zwar nicht nur, weil er auf andere sexuell anziehend wirkt, sondern weil er Jugend, Herz und Sinne besitzt, die er sich mit Gewalt ausmerzt. Ich wette, da gibt es noch mehr Textstellen, die einen liebesfähigen Narziß zeigen.«
»Karla, du willst Narziß doch wohl nicht eine Liebesgeschichte andrehen?«
»Wer weiß. Vielleicht finden wir für ihn eine passende Frau.«
»Narziß ist Mönch und bleibt Mönch – und damit basta.«
»Ja, hier lies mal«, rief sie begeistert. »Da sagt Narziß zu Goldmund: Weißt du nicht, daß einer der kürzesten Wege zum Leben eines Heiligen das Leben eines Wüstlings sein kann?«
Bernd stöhnte, stand auf, ging zum Küchenschrank, öffnete die mit einem Vorhang behangene Glastür, nahm sich ein Glas, ging zum Wasserhahn und füllte es. Währenddessen überlegte er fieberhaft, ob er Karla verraten sollte, was Hesse selbst über Narziß gesagt hatte. Er hörte Hesse geradezu sprechen: Es wäre auch ein Wort über Narziß zu sagen. Unter anderem das: Narziß ist ebenso wenig der reine Geistmensch, wie Goldmund der reine Sinnenmensch.
Er gab sich einen Ruck. Wenn sie wirklich zusammen ein Manuskript Hesses fälschen wollten, dann musste er Karla gegenüber ehrlich sein.
»Eben genau, das meine ich doch, was da Hesse zu seiner Figur sagt. Schließlich zweifelt sogar Goldmund es einmal an, dass Narziß nur ausschließlich Asket, ganz und gar keusch ist. Er greift ihn geradezu an. Hör mal: Hast denn auch du selber noch keine Weihe, hast noch kein Gelübde getan, und doch würdest du dir niemals erlauben, ein Weib anzurühren! Oder täusche ich mich da? Bist du gar nicht so? Bist du gar nicht der, für den ich dich hielt?«
Karla hielt inne und schaute zu Bernd, der mit seinem Glas am Fenster stand und innerlich noch immer rang, denn er ahnte, worauf Karla hinaus wollte.
»Hör doch, Bernd, mir zu. Auf diesen Angriff gibt Narziß nur eine indirekte Antwort. Er sagt, er halte sich an das unausgesprochene Gelübde. Aber ist, sich an ein Gelübde zu halten, dasselbe wie keine Gefühle zu haben, kein Begehren zu kennen? Hesse schreibt ja, dass Narziß Jugend, Herz und Sinne dem Geist zum Opfer bringt. Was erhält er übrigens dafür zurück? Wir Geistigen leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Selbst wenn Narziß dieses karge Leben bejaht, es akzeptiert, dass Goldmund einen schöneren Lebensweg hat als er selbst, obwohl es auch heißt, dass er Neid empfindet, so hat er, auch wenn er im sicheren Kloster lebt, doch keinen dauerhaften Frieden, sondern täglichen Kampf. Fragt sich nur, ob auch gegen die Sinne. Meinst du tatsächlich, dass Narziß wirklich für ewig und immer seine Sinne durch Exerzitien abtöten kann?«
»Nun ja«, antwortete Bernd und zog die Worte in die Länge. »Irgendwie hat Hesse so etwas vorgeschwebt, jedenfalls in seinem Spätwerk, im Glasperlenspiel . In dieser pädagogischen Provinz ist zwar das Geschlechtliche nicht grundsätzlich verboten, es ist kein Mönchsorden, aber es wird durch Meditation nivelliert, das Triebleben ist meditativ gebändigt. Von Josef Knecht werden die Triebe kurz am Rande erwähnt, sind jedoch nicht handlungsleitend: Also, ich lese dir das mal vor.« Bernd blätterte im Glasperlenspiel :
Und natürlich kannte er das Vorhandensein dieser Welt auch im eigenen Herzen. Auch er hatte Triebe, Phantasien, Gelüste, welche den Gesetzen widersprachen, unter denen er stand, Triebe, deren Zähmung nur allmählich gelang und harte Mühe kostete.
Na, siehst du. Es gelingt allmählich, das heißt, auf Dauer gelingt es ganz. Jedenfalls ist Sinnlichkeit ganz gewiss nicht das Problem und der Kampf Josef Knechts. In der Geschichte des Josef Knecht geht es um das Einordnen und Dienen des Einzelnen in eine sinnvolle Ordnung und es handelt von der Verantwortung dessen, der diese Ordnung aus Gewissensgründen durchbricht.«
»Aber Narziß ist die Vorstufe zu Josef Knecht. Du hast doch vorhin selbst vorgelesen, dass Narziß die Figur Josef Knecht präformiert habe. Das heißt, wir können uns bei Narziß an Josef orientieren. Und wir haben uns doch entschieden, dass Narziß zeitlich kurz vor oder zugleich mit dem Glasperlenspiel geschrieben ist. Das könnte bedeuten, dass Hesse mit Narziß noch eine Zwischenstufe gewählt hat, gerade weil er ihn so außerordentlich sinnlich wahrnehmbar beschreibt. Eine Person, die für den Leser körperlich so präsent ist, kann selbst nicht ganz unsinnlich sein. Ist er ja auch nicht.«
»Du willst also unbedingt eine Liebesgeschichte haben. Ich soll einen verliebten Narziß darstellen?« Bernd schüttelte den Kopf. »Unmöglich.«
»Lassen wir das. Du kannst ja erst einmal anfangen.«
»Karla, mir fällt gerade auf, in Narziß und Goldmund wird eigentlich bis auf die Szene bei der Geliebten des Grafen nie was gegessen. Goldmund bemerkt nur einmal tadelnd, er sei nicht wegen des Essens gekommen. Ganz anders ist es im Steppenwolf , wo einem fast das Wasser im Munde zusammenläuft, wenn Hermine den Haller mit einem Happen Gans füttert. Wollen wir den Sinnen frönen und Essen gehen? Kurz vor Weihnachten müssten wir in einem guten Restaurant einen köstlichen Gänsebraten bekommen. Ich lade dich ein. Wir verspeisen meine Fahrkarte nach Hamburg. Und mit vollem Magen denke ich noch mal über die Sinneslust nach.«
Später dann, nachdem Bernd und Karla in einem mit dunklem Holz getäfelten Restaurant einen vorzüglichen Entenbraten verspeist hatten, der Ober diskret und geradezu unsichtbar und geräuschlos die Teller, Schüsseln und die Sauciere abgeräumt hatte, betrachtete Bernd seine Nachbarin, wie sie ihrem Zigarettenrauch nachblickte.
»Woran denkst du?«, unterbrach er die Stille, als Karla immer noch in sich versunken wirkte.
»Ich wüsste gerne«, flüsterte sie, »ob Hermann Hesse unser Vorhaben billigt und welche Botschaft er für uns Heutige hat.«
»Fragen wir ihn doch selber«, antwortete Bernd leichthin, ohne zu zögern.
Karla schüttelte unwillig den Kopf.
»Ich rede im Ernst. Schon der Demian endet damit , dass Demian, obgleich er tot ist, kommt, wenn Sinclair ihn ruft. Und Narziß gibt Goldmund sein Wort: › Nie wirst du im Augenblick, wo du mich ernstlich rufst und zu brauchen meinst, mich dir verschlossen finden. Niemals.‹ So geschieht es auch. Als Goldmund gefangen im Kerker des Grafen eine angsterfüllte Nacht vor seiner Hinrichtung verbringt, Narziß nicht gerade ruft, wie sollte er auch ahnen, dass Narziß nicht in seinem Kloster ist, jedoch voller Liebe an ihn denkt, da erscheint Narziß im Morgengrauen und führt ihn zurück ins Leben.«
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