Nun gibt es also drei Möglichkeiten für uns: Hat Hermann Hesse unser Manuskript über Narziß gleich nach der Veröffentlichung des Buches Narziß und Goldmund geschrieben oder noch während der Arbeit am Glasperlenspiel oder aber viel später, nach 1942? Was meinst du, Karla?«
»Ist das nun eine ernst gemeinte Frage?«, erkundigte sie sich skeptisch.
»Ja, schließlich müssen wir später Unseld, den Verleger, überzeugen, dass das Manuskript von Hesse ist. So stellst du dir das doch vor?«
Bei dem Namen Unseld zuckte Karla zusammen. Zögernd gab sie zu: »Der soll sehr schwierig, kritisch und launisch sein. Auch wenn wir natürlich nicht wissen können, wann Hesse das Manuskript geschrieben hat, muss unsere Antwort plausibel klingen. Sag, was meinst du, Bernd?«
»Hesse hat nach dem Glasperlenspiel kein großes Prosawerk mehr veröffentlicht, es ist sein letztes großes dichterisches Werk. Wenn er 1942 Das Glasperlenspiel beendet hat und 1962 gestorben ist, dann sind das 20 Jahre. Für einen Dichter eine sehr lange Zeit. Warum hat er danach keinen Roman mehr geschrieben?«
Karla starrte vor sich hin, dachte intensiv nach.
»Ich glaube, Hesse gibt im Glasperlenspiel selbst den Schlüssel für diese Antwort«, erinnerte sie sich. »Da entscheidet sich Josef Knecht, dass, wenn er einmal Unlust verspüren würde, wenn es ihm schwer fiele, das Jahresfest des Glasperlenspiels vorzubereiten, er sein Amt niederlegen würde. Mit dem Glasperlenspiel hat Hesse sein Höchstes geleistet. Es gilt als Gipfel seines dichterischen Schaffens, als Summe seines dichterischen Lebens. Ich meine, das hat Hesse auch selbst so gesehen. Darum, um auf unsere Frage zurückzukommen, wann Hesse eine Erzählung über Narziß geschrieben haben könnte: Es erscheint unwahrscheinlich, dass er danach sich einem Teilaspekt seines Werkes wieder zuwendet. Außerdem tauchen gleich ganz andere Fragen auf: Warum hat er es nicht veröffentlicht oder weshalb wurde es nicht posthum veröffentlicht? Und wie sollen wir ein Manuskript aus dem Nachlass finden, der von seiner Frau sicher extrem gut verwaltet wurde?«
»Das habe ich mir genauso überlegt«, sagte Bernd. »Es ging mir wirklich nicht darum, dich irgendwie lächerlich zu machen, sondern nur darum, ob du so denkst wie ich.«
Karla zündete sich eine Zigarette an und kommentierte: »Männer.«
Verdutzt sah Bernd sie an. »Wollen wir aufhören?«
»Nein. Was spricht für die Zeit kurz nach 1930?«
» Die Morgenlandfahrt . Ich habe sie gestern Nacht noch durchgelesen. Sie war ja Hesse so wichtig, dass er sogar sein Werk Das Glasperlenspiel den Morgenlandfahrern gewidmet hat. In Die Morgenlandfahrt kommt Goldmund zweimal namentlich vor, aber kein Mal Narziß. Deshalb nehme ich an, dass er unser Manuskript nach der Morgenlandfahrt geschrieben hat. Das Buch endet ganz merkwürdig, nämlich dass der Autor immer mehr abnimmt und schließlich in der erdachten Figur verschwindet. Ich stelle mir vor, dass Hesse einen Mangel empfunden hat, indem er das Leben des Narziß ausgelassen hat. Oder anders ausgedrückt, dass Narziß immer mehr an Leben gewann, immer mächtiger wurde und sozusagen Hesse keine Ruhe gelassen, ihn quasi gezwungen hat, ihn sichtbare Realität werden zu lassen. Ja, man kann sogar weitergehen. Hesse hat es auch selbst gesagt, dass Das Glasperlenspiel , genauer Josef Knecht und Narziß zusammengehören, ja dass Josef Knecht im Narziß präformiert sei. Wie ebenfalls die pädagogische Provinz Kastalien und das Kloster Mariabronn zusammengehören. Das heißt, Hesse hat Narziß ohne Goldmund vor oder zu Beginn des Glasperlenspiels geschrieben. Wir können also auch Das Glasperlenspiel in unsere Erzählung einbeziehen.«
»Wie überhaupt das ganze Werk Hermann Hesses.«
Bernd nickte. »Ja, das stimmt. Wie gesagt, für ihn sind der Knulp und der Demian, der Siddhartha, der Klingsor und der Steppenwolf oder Goldmund jeder ein Bruder des anderen. Von Peter Camenzind bis zum Steppenwolf und Josef Knecht können sie alle als eine Verteidigung, zuweilen auch als Notschrei der Persönlichkeit, des Individuums gedeutet werden.«
»Das heißt«, schlussfolgerte Karla, »wir können für Narziß’ Leben alle Werke Hesses zu Rate ziehen.«
»Noch mehr, und umso besser. Hesse hat den vierten Lebenslauf Josef Knechts in zwei Fassungen geschrieben. Bei der zweiten Fassung zitiert er über lange Strecken seine erste Fassung. Er hat viele Passagen der ersten Fassung Wort für Wort in die zweite Fassung hinübergenommen.«
Bernd strahlte: »Das können wir also auch machen oder ebenso Formulierungen und Motive aus anderen Werken übernehmen und in den neuen Kontext integrieren. Hesse macht es ja selbst.«
Karla strich Bernd sanft über den Ärmel.
»Warum bloß hat er es nicht veröffentlicht?«, fragte sie. »Da sehe ich noch ein Problem.«
»Nach 1933 mit der Machtübernahme wurde es schwierig. Narziß und Goldmund wurde nicht wieder aufgelegt, angeblich aus Papiermangel, in Wirklichkeit weil ein Pogrom geschildert wird, das Hesse nicht streichen wollte. Hesse sagte, er habe dadurch viele 1000 Mark eingebüßt.«
Bernd schwieg entsetzt und biss sich auf die Lippen. Das Letztere hätte er nicht sagen müssen. Karlas Gesicht verwandelte sich in eine Fratze, weinerlich, gekränkt fand er, nein, noch schlimmer seelenlos, starr. Dieser gottverdammte Kerl, dachte er, machte Profit mit ihrer Seele. Bernd hätte, so wunderte er sich über sich selbst, ihm eins in die Visage geschlagen, wäre Hubertus plötzlich hereingekommen.
Karla fasste sich: »Fragt sich dann aber, warum Hesse das Manuskript über Narziß nicht nach 1945 veröffentlicht hat.«
»Vielleicht hat er es vergessen.«
»Du spinnst.«
»Nein, ganz im Ernst. Hesse hat tatsächlich in seiner Schublade ein Fragment vom Goldmund gefunden, das er völlig vergessen hatte. Er hatte es 1907 verfasst und 1943 wiederentdeckt.«
»In seiner Schublade, sagst du. Und wie kommen wir an das Manuskript?«
Bernd zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Wir müssen darauf vertrauen, dass uns dazu was einfällt.«
»Ich koch uns erst einmal einen Kaffee. Ich nehme an, dein Magen hat sich beruhigt.«
»Mensch, ich habe ganz vergessen, meine Eltern anzurufen, dass ich nicht nach Hamburg komme.«
»Das Telefon steht auf meinem Schreibtisch.«
Als Bernd nach einem heftigen und unerfreulichen Telefongespräch mit seiner Mutter, in dem es vornehmlich um Geld, nämlich die Rückzahlung seines BAföG gegangen war, wie auch um die Schande, die Bernd seiner Familie machte, den Telefonhörer auflegte, hatte sich Karla über das Buch gebeugt, sah dann auf und wandte sich seitwärts Bernd zu: »Sag mal, ich suche etwas über Narziß’ Kindheit und Jugend. Über Goldmunds steht so viel, über Narziß finde ich nur ein Wort Zögling . Es gab den Zögling Narziß, der erst seit kurzem das Noviziat angetreten hatte .«
»Mehr steht auch nicht drin. Zögling kann im Mittelalter viel bedeuten, dass Narziß als Gottesgabe von seinen Eltern dem Kloster übereignet worden ist, dass seine Mutter eine arme Frau war, die ihr Kind nicht ernähren konnte oder keines haben durfte, weil es unehelich war, und sie den Säugling auf das Rad in der Klostermauer gelegt, das Glöckchen geläutet hat und verschwunden war. Das Rad wurde dann gedreht und das Kind von den Mönchen in Empfang genommen. Die Mutter könnte sogar eine Adelige gewesen sein, das wäre eine Erklärung für Narziß’ höfische Manieren.«
»Das ist Spekulation«, bemerkte Karla streng.
»Ja, und es passt nicht zu Hesse. Über Josef Knecht, der ja sozusagen mit Narziß verwandt, sein Bruder ist, heißt es: Über Josef Knechts Herkunft ist uns nichts bekanntgeworden. Gleich vielen anderen Eliteschülern hat er seine Eltern früh verloren oder ist von der Erziehungsbehörde aus ungünstigen Verhältnissen losgelöst und adoptiert worden.«
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