1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Jens zwang sich zurück ins Hier und Jetzt. Einige Aufnahmen des Durcheinanders im Seminarraum würden ihn ablenken. Da schnaubte es aus einem angrenzenden Raum verärgert. Er trat in die Tür und erblickte ein Büro vom Feinsten: Schränke und Tische aus rotbraunem Kirschholz, ein abstraktes Ölbild, übergroß über die Wand erstreckt, endlose Reihen ledergebundener Bände in den Regalen und auf einem Schränkchen eine Espressomaschine der Nobelklasse. Jens fühlte sich erneut an ein Anwaltsbüro erinnert. Ob die sich überhaupt noch mit normalen Studenten abgeben? Oh nein, dachte er, hier geht es nicht um den gewöhnlichen Studienbetrieb, sicher nicht. Ein Schreibtisch stand mitten im Raum. Ein älterer, sorgfältig gekleideter Herr mit grau meliertem, sanft gewelltem Haar arbeitete am PC. Er widmete Jens scheinbar keine Aufmerksamkeit. Aber er wusste doch, dass Besuch kam. Niemand anderes als er hatte ihm doch unten die Tür geöffnet. Unbeirrt gab er sich mit dem Computer beschäftigt. Jens schätzte ihn auf siebzig Jahre und musterte sein gepflegtes Äußeres, Anzug, Schuhe und Brille von anderen Marken als die seiner Werbeaufnahmen damals, zudem trug er als Blickfang eine Taschenuhr. Langgestreckt hing er im Schreibtischstuhl, nur den Kopf etwas nach vorne gereckt, um den mit fremdartigen Symbolen überdeckten Bildschirm zu beobachten. Neben der Tastatur standen einige gestern wohl nicht restlos geleerte Flaschen mit abgestandenem Sekt. Offenkundig waren sie eben erst aus dem Kühlschrank genommen worden, denn sie waren unten beschlagen. Daneben stand eine Kaffeetasse, die als Glas herhalten musste. Nachdem dieser Herr dem Besucher weiterhin keine Aufmerksamkeit schenken wollte, schnaufte er noch einmal, nahm einen Schluck, drehte sich dann aber abrupt um und redete Jens in einem Ton an, wie man Angestellten im Weiterarbeiten einige Instruktionen erteilt: »Sie haben geklingelt. Sie wissen, hier in der Spitzenforschung haben wir es mit äußerst komplexen Zusammenhängen zu tun. Das Denken muss sich bis zu siebzehn Operationen gleichzeitig vergegenwärtigen können, um zu Schlussfolgerungen zu gelangen. Manche Kollegen haben vor diesem Komplexitätspostulat schon kapituliert, haben sich in merkwürdige Gebilde wie diese …« – er hüstelte beinahe echt – »… diese Fuzzy-Logik geflüchtet. Sie beherrschen eben alle ihre Mathematik nicht mehr. Nun ja, hier haben wir stets seriöse Wissenschaft gepflegt, zumindest unter meiner Institutsleitung. Professor Werner Rautloff mein Name übrigens, er muss Ihnen nichts sagen. Ich weiß, wir Logiker sind die verkanntesten unter den Wissenschaftlern, sozusagen ihre Kartäuser, wenn jemand aus Ihrer Generation damit überhaupt noch etwas anfangen kann. Aber wie ein Logiker sehen Sie ja ohnehin nicht aus. Ja, ich habe Sie sehr wohl bereits betrachtet, auch wenn das nicht den Anschein hatte. Eine meiner siebzehn Operationen war für Sie noch frei, Sie verstehen? Und so unpraktisch ist mein Alter auch nicht. Aber nun frischauf, junger Mann! Ihr Anliegen, klar und knapp! Sie wissen ja, Logik ist die hohe Schule geistiger Präzision.« Bei diesen Worten musterte der Professor Jens unverhohlen und versuchte ihn einzuschätzen.
»Jens Deschwitz, ich recherchiere als Bildjournalist über Robert Schönherr. Ich darf hier doch ein paar Bilder schießen?« Rautloff blickte ihn scharf an. »Robert …? Was wissen Sie von ihm? Für Leute wie Sie gibt es da überhaupt nichts zu recherchieren. Er hat nichts mit diesen … Todesfällen zu tun. Ich, ja ich muss ihm einen Vorwurf machen: Er hat seine enorme Begabung und seine akademische Zukunft versaufen gelassen. Ja, versaufen, ich muss so drastisch werden. In elender Frömmelei, in Illuminatism und Adeptentum, wie Kant sagen würde.« Mit heftigem Schwung wandte Rautloff sich wieder dem Bildschirm zu. Dabei stieß sein linker Ellbogen an eine Flasche, die dadurch ins Wanken geriet. Er wollte sie auffangen, stieß dabei aber nur zwei weitere an, die schäumend ihren Inhalt auf die Schreibtischplatte und den Boden ergossen. Rasch trat Jens hinzu, um zu helfen, aber Rautloff hatte schon sein Taschentuch hervorgezogen und versuchte, die Lache wegzuwischen. »Dieser Unsinn hier sollte am besten ganz verschwinden«, knirschte er. Das Tuch verteilte die Spuren seines Malheurs aber nur gleichmäßiger auf der Tischplatte, und so fuhr er Jens an: »Warten Sie, gleich habe ich wieder alles im Griff.« Das gezwungene Lächeln des Professors hätte Jens’ Passion für Gesichter Nahrung gegeben, dieser plötzliche Durchbruch von etwas ganz anderem hinter der Fassade. Aber er suchte hier ja anderes, noch Wichtigeres. Mit einem Mal kam ihm die Studentin auf dem Steg wieder in den Sinn. Das Chaos nach der Party hatte sie doch sicher auch gesehen. Was hatte sie sich dabei gedacht? Und wen gesprochen? Die Putzfrau, die nun die Kleinigkeit wieder in Ordnung bringen musste, damit ab morgen wieder die reine Wissenschaft herrschen konnte? Rautloff war schon an den Schrank geeilt, um eine Rolle Küchenpapier zu suchen. Er musste hinter einem Stapel herumwühlen, bis er sie gefunden hatte. »Ach, selbst das ist nicht mehr auf seinem Platz! Warten Sie, ich bin gleich bei Ihnen. Einen kleinen Moment noch, ich muss nur den Rechner sperren, mit Kennwort, Sie verstehen? Wenn wir länger als fünf Minuten nicht an einer Datei arbeiten, löscht sie sich sonst von selbst. Ist alles schon passiert, aber immer noch besser, als einem Unbefugten einen Zugang zu eröffnen. Der Neid unter Kollegen ist groß, Sie verstehen?«
Langsam schloss Rautloff den Schrank, wischte die Flüssigkeit weg und wandte sich wieder dem PC zu. In diesem Augenblick tat Jens etwas, wofür er später nie den Grund angeben konnte: Unauffällig schaltete er die Videoeinstellung seiner Kamera ein und richtete sie mit einer geübten Drehung des Handrückens unauffällig auf die Tastatur: Das Kennwort, jetzt war es sein.
Der Professor hatte nichts davon bemerkt. »So, jetzt ist die Arbeit gesperrt. Ja, hier herrscht neuerdings der Sicherheitswahn, dem sich auch der Emeritus beugen muss. Das papierlose Büro, Sie verstehen? Alle Daten, alle Vorgänge, alle Geheimnisse« – er kicherte, so als wäre ihm diese Einsicht erst in diesem Moment gekommen –, »einfach alles ist im Intranet des Instituts abgespeichert. Der allwissende Gott, da haben wir ihn endlich: Er thront auf der Cloud, und aus dem Füllhorn seines Wissens gibt er jedem am Institut seinen Anteil. Ganz entsprechend seiner Verdienste und streng hierarchisch. Sie sehen, nicht jeder Fortschritt ist gleichmacherisch. Robert mit seinem katholischen Fundamentalismus hätte daran seine helle Freude haben müssen.« Schrill lachte er auf, nur um sich gleich wieder zu fangen. Endlich bot er seinem Besucher einen Platz an und begann zu reden, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, die Ellbogen breit über die Armlehnen ausgestreckt und die Augen abwechselnd auf Jens gerichtet und über die Schränke schweifend: »Über meinen Robert wollen Sie also etwas wissen? Da haben Sie gut daran getan, ausgesprochen gut, auf meine Person zuzukommen. Ich, das darf ich doch sagen, ich habe ihn entdeckt, habe ihn gefördert und … dieses schreckliche Unglück wäre nie geschehen, wenn er unter den Fittichen seines Doktorvaters geblieben wäre. Ja, Fittiche hat er dauerhaft gebraucht. Robert ist ein Genie, aber leider auch ein Autist, oder medizinisch genauer, er weist ein Asperger-Syndrom auf – zum Glück nur in einer minder heftigen Form und infolge früher Fördermaßnahmen für nicht Eingeweihte kaum mehr erkennbar. Wissen Sie Bescheid über Autisten? Ach was, ich muss ja zum Glück keine Prüfungsfragen mehr stellen. Womöglich werden Sie mir ohnehin nur das antworten, was ewiggestrige Halbgescheite immer noch meinen: Ein Autist hat eine Mutter, kalt wie ein Kühlschrank, ihm fehlt es in der frühen Kindheit an Zuwendung und so weiter. Deshalb zieht er sich immer mehr in seinen Elfenbeinturm zurück. Manche verblöden dabei, einzelne Wenige bringen es zu Spitzenleistungen oder schreiben Gedichte aus dem Nirgendwo der Seele. Nicht wahr, so etwas Ähnliches schwebt Ihnen doch vor?«
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