Geräuschvoll lehnte er sich zurück, versuchte auch seinerseits, mit ostentativem Kriminalistenblick alles an ihr zu erfassen und auf diese Weise die im Schweigen verlorengegangene Oberherrschaft zurückzugewinnen. Reden würde sie ja doch noch, gewiss, sie würde reden, monoton, beherrscht und fromm. So zumindest stellte er sich eine Klosterschwester vor. Am Ende aber würde sie reden wie alle, die er vernommen hatte. Ihre Aussagen würden sich wie ein Mäander ausbreiten, würden immer breiter werden, um am Ende nur um die eine Beteuerung zu kreisen: »Was wollen Sie denn von mir? Es ist doch alles in Ordnung.«
»Sie heißen?« Schwester Josepha hieß sie, das wusste er längst, doch routinemäßig eröffnete er jedes Gespräch mit der Frage nach dem Namen. Er war auf ihre Stimme gespannt. Aus Kindertagen klang ihm noch die einer Gemeindeschwester im Ohr. Deren Ton hatte nie die Beherrschung verloren, alle aber hatten sich vielleicht gerade aus diesem Grund vor ihr geduckt. Dergleichen erwartete er auch jetzt. Schwester Josepha schwieg weiter. Landolf ließ ihr noch Zeit und musterte ihre Erscheinung, nicht durch ihren Blick behindert. Ein weiter schwarzer Schleier fiel ihr über den Rücken, Gesicht und Brust schloss ein weißes Leinen ein, das Ordensgewand selbst war braun und aus grobem Stoff. Ein breiter schwarzer Gürtel umschloss es an der Hüfte, darüber noch der ebenfalls braune, von den Schultern herabfallende Streifen des Skapuliers, der der geraden, gesammelten Haltung eine große Würde verlieh. Seitlich fiel ein Rosenkranz vom Gürtel herab. Das Ordensgewand machte es schwer, ihr Alter zu schätzen. Die Wand des Sprechzimmers war mit grobem Mörtel verputzt. In der Mitte hing das Kreuz und rechts davon das Ölbild einer Nonne im gleichen Gewand wie Schwester Josepha, neben ihren Lippen eine lateinische Inschrift: »Aut pati aut mori.« Wirkte all das auf den kirchenfernen Kommissar schon sonderlich, so doch am meisten das doppelreihige Gitter, das den Raum durchschnitt. Die leben ja wie Gefangene, kam es ihm. Aber nein, die Schwester verhielt sich völlig anders als auf die Weise, die er an vielen Untersuchungshäftlingen wahrgenommen hatte: Sie ließ sich durch Gunst oder Ungunst des Besuchers nicht im Mindesten bestechen.
Noch immer schwieg Schwester Josepha. Landolf wurde zusehends unduldsam. Wenn seine Zeugen redeten, dann hatte er sie im Griff, und sie redeten sich um Kopf und Kragen. Die Schwester aber sagte kein einziges Wort. »Himmel noch mal, so sagen Sie doch endlich was! Irgendwas, egal, das Vaterunser!« Sie rührte sich nicht. Die Neugier hatte Landolf schon wieder verlassen. Frauenseelen blieben ihm fremd, das hatte er in der Abendstunde jenes sechzehnten März begriffen, als seine Frau ihm nach dreiundzwanzig Ehejahren nicht mehr als einen Zettel hinterlassen hatte: »Ich bin weg. Es geht nicht mehr. Frag nicht!« Der ganze Fall hier im Kloster war schon nicht mehr der seine, noch bevor er richtig begonnen hatte. Er würde weiter ermitteln, das war seine Pflicht, und diese vier verbleibenden Jahre bis zu seinem Ruhestand zu erfüllen, hatte er sich anbefohlen. Die ganze Welt der Frömmigkeit verstand er nicht, und sie interessierte ihn auch nicht. Was den Fall selbst anging, so hielt er Mord für ausgeschlossen, und alles andere lief für ihn ohnehin auf das Gleiche hinaus. Leute, die nicht genug praktischen Sinn hatten, einen Ölofen vor Inbetriebnahme genau zu inspizieren, waren für ihn nicht weniger Spinner als solche, die ihre Himmelsideen so lange verdrehten, bis sie freiwillig Kohlenmonoxid einatmeten.
Überhaupt, bei den allermeisten der Gewaltverbrechen, bei denen er je zu ermitteln gehabt hatte, waren Leute im Spiel, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen hatten. Wurden sie Täter, wurden sie Opfer? Darüber entschied manchmal bloß der Zufall, der banale Zufall, nichts weiter. Eine Dreiundfünzigjährige hatte an einem Nachmittag dreimal versucht, ihre beste Freundin zu erreichen. Aber diese saß in der Praxis ihres Tierarztes fest. Ihr Hund hatte sich an einer Glasscherbe eine Blutvergiftung zugezogen. Nach dem dritten Anrufversuch ging die Frau in einen Supermarkt, kaufte ein Fleischermesser und erstach ihren Mann, der, von einer Grippe geschwächt, im Bett lag. Bei seinen Untersuchungen war Landolf dann auf einen unerklärbaren Einparkunfall des Opfers wenige Tage zuvor gestoßen. Seine Frau war bereits aus dem Wagen ausgestiegen, da gab er Gas und krachte rückwärts gegen die Garagenwand. Er musste doch davon ausgegangen sein, dass sie sich noch in der Garage befand. Vorsatz oder fahrlässige Tötung? Im Prozess schwieg die Frau zu diesem Vorkommnis beharrlich und wollte in diesem Augenblick bereits ins Haus gegangen sein. Schwieg sie vielleicht sogar aus Liebe? Gab es so etwas?
»Schwester Josepha, ich bin hier, weil in Ihrem Kloster fünf Menschen umgekommen sind. Bedenken Sie: Fünf Menschenseelen, die gestern noch unter uns weilten, sind heimgerufen worden, wie Sie es vielleicht ausdrücken würden! Das dürfte mir doch wohl das Recht zu ein paar ganz einfachen Fragen geben, oder? Was haben Sie letzte Nacht mitbekommen? Wer hat diesen Ölofen nach Jahren erstmals in Betrieb genommen? Wo ist der Chef der ganzen Sekte? Hat er seine Leute den Selbstmord gelehrt?« Landolf sah die Schwester erwartungsvoll an, die aber machte immer noch keine Anstalten, zu antworten. »Ganz einfache Fragen, wie gesagt. Da gibt es nichts vorher zu meditieren, sich zu versenken und nicht mehr aufzutauchen. Nichts als antworten, ohne lange nachzudenken, nichts als die Fakten, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Von Ihrer ganzen Frömmigkeit weiß ich nichts, und wenn sie Ihnen etwas bringt, finde ich sie sogar gut. Aber meine Fragen, bitte!«
Er hatte den letzten Satz kaum beendet, da tat die Schwester etwas Unvorhersehbares. Immer noch wortlos trat sie dicht an das Klausurgitter, streckte Landolf darin ihren rechten Arm weit entgegen und blickte ihn ein zweites Mal an, nun aber ohne die Augen sofort wieder zu senken und mit der stummen Aufforderung, näherzutreten. Die Falten im ledrigen Gesicht zogen sich in die Breite und gaben ihm dadurch etwas freundlich Verschmitztes, so als wollte sie ihn zum Lachen darüber bringen, dass er die Welt noch ernst nehmen musste, anders als sie. Fühlte er sich vorhin bei ihrem Eintreten durch und durch erkannt, so begegnete ihm, dem alten Raunzer, nun darin eine solche Anteilnahme, ja ein Vertrauen, dass er wusste, er hätte hier nur zu fragen brauchen, und dieses armselige, aussterbende Kloster hätte ihm ein Zimmer gegeben, umstandslos und ohne Fristen. Ohne zu verstehen, ohne es eigentlich zu wollen, machte er einen Schritt nach vorne und streckte seinerseits die Rechte tief in das Gitter unter ihre Hand. Wie von selbst wechselte ein kleiner Zettel in seine Finger. Sie musste ihn also die ganze Zeit bei sich getragen haben. Er zog den Arm zurück und las ihre sorgfältig geschriebenen Zeilen: »Ich habe mich vor Gott mit einem besonderen Gelübde zu ewigem Schweigen verpflichtet. Nur unsere ehrwürdige Mutter könnte mich von diesem Gelübde entbinden. Doch infolge der schrecklichen Ereignisse hat sie einen Schock erlitten und befindet sich, wie Sie wissen, im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Bitte, haben Sie Verständnis! Ich werde für den Erfolg Ihrer Arbeit beten.«
»Aber aufschreiben können Sie mir doch, was sie gesehen haben?«, witterte Landolf seine Chance. Die Schwester überlegte und schüttelte dann den Kopf. Ein zweiter Zettel wechselte in seine Hand: »Leider nur mit Erlaubnis der Mutter Oberin. Es tut mir schrecklich leid.« Landolf musste diese Mitteilung drei Mal lesen, bis er verstand, dass hier augenblicklich nichts zu machen war. »Dann können wir uns erst unterhalten, wenn die andere ihren Schock überwunden hat?« Schwester Josepha nickte, dann verneigte sie sich freundlich, bekreuzigte sich und verschwand.
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