»Nein, nein, nein! Ich wiederhole noch einmal, für solche Phantastereien besteht nicht der geringste Anlass.« Landolfs Stimme kam tief aus dem Keller und erhob sich auch nicht, wenn er sich ärgerte.
Sophia saß neben einem Kollegen von einer überregionalen Zeitung und beugte sich seitlich zu ihm: »Was ist mit diesem Guru, Robert Schönherr? Warum wird über ihn nichts Genaueres mitgeteilt?« Nur der Kugelschreiber, den sie unaufhörlich zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, verriet ihre Spannung.
»Die Ermittler sagen, es sei ein Unfall. Da brauchen sie ihn nur als Zeugen, und auch das ist eigentlich gar nicht mehr nötig, denn angeblich wissen sie ja schon die Todesursache und alles. Aber wenn du mich fragst, spielen sie seine Rolle nur herunter, um ihn ungestört jagen zu können. Ich wette, das Tamtam mit dem Sektenselbstmord macht ihnen noch einen Strich durch die Rechnung. Da will doch keiner mehr an Unfall glauben. Nur schade, dass es alles Männer waren. Da fehlt mir das Prickeln.«
»Vielleicht waren diese Frömmler ja auch allesamt schwul«, warf Sophia ein, während sie wie beiläufig ein paar Notizen machte und dann ihre Blicke durch das Fenster wandern ließ. Obwohl die Pressekonferenz im ersten Stock stattfand, hüllte der mächtige Bau der benachbarten Michaelskirche den Raum ins Halbdunkel. Nur Mauerwerk, wohin man auch blickte. Es war zum Verzweifeln.
Etwas überrascht von Sophias Zurückweisung seiner doch bloß lockeren Bemerkung, versuchte ihr Sitznachbar einen kleinlauten Rückzieher: »Robert Schönherr? Du hast recht, da ist was faul dran. Angeblich fand man in seinem Zimmer nichts, was auf eine Abreise schließen ließ. Und doch ist er scheinbar getürmt. Warum sollte so einer seine Jünger in den Tod treiben? Selbstmord oder Unfall oder eben … ?«
»Wer waren seine Jünger?« Sophia hatte genug von seinen Schwafeleien. Vielleicht besaß er ja wenigstens ein paar handfeste Informationen. Die könnte sie immer noch aus ihm herauslocken.
»Habe ich alles«, trumpfte der Reporter auf, eifrig bemüht, seine selbstbewusste Kollegin an seinem gut recherchierten Eigentum teilhaben zu lassen. »Die sind allesamt Versager, wie sie im Buche stehen. Sind nicht mit dem Leben zurechtgekommen, das konnte man sich ja auch schon so denken. Aussteiger, die nichts zu verlieren hatten, eine leichte Beute für jede Sekte. Das liegt doch auf der Hand. Aber eigentlich weiß man absolut nichts von ihrem Vorleben. Völliges Schweigen über das, was früher war, das war so etwas wie ihr heiliges Prinzip.«
»Weiß ich, weiß ich längst«, spielte Sophia seine Kenntnisse herunter. »Aber dieser Robert Schönherr? Er muss irgendetwas an sich haben, was die Menschen …« Sie brach ihre Beschreibung sofort wieder ab. Nein, von den Fotos und ihrem Eindruck sollte noch niemand etwas erfahren. Es war schon problematisch genug, dass der da offensichtlich mindestens ebenso gut über diese Sekte Bescheid wusste wie Jack.
»Na ja, was wird das schon sein? Einige Gramm Opium genügen für fünf Leute, die es im Leben nicht weit gebracht haben.«
Um Sophia zu imponieren, erhob der Kollege sich und stellte öffentlich eine Frage, nein, er begann, eine Geschichte zu konstruieren, an die er vor fünf Minuten nicht einmal selbst geglaubt hätte: »Herr Landolf, ich werde Ihnen nun eine Version des Hergangs vortragen. Wenn Sie können, legen Sie mir schlüssige Gegenbeweise vor. Folgendes: Feststeht, da war ein Guru, Robert S. Ohne ihn wären seine fünf Anhänger nie zusammengekommen und wären auch nie religiöse Fanatiker geworden. Und sie wären noch am Leben! Das aber ist nur noch ihr Guru, und der ist auf und davon. Mit ihrem Geld vielleicht? Mit ihrem erzwungenen Schweigen? Vielleicht hatte er die Vertuschung von Vorfällen bitter nötig. Wir befinden uns ja im Kloster einer Kirche, die im Vertuschen bekanntlich Weltmeister ist. Bedenken Sie, da sind lauter junge Männer, streng katholisch keusch. Und wo sind die Frauen? Die zwei steinalten Nonnen? Ich bitte Sie! Oder war es vielmehr so: Frauen brauchten sie nicht, aber … aber dafür hatte Robert S. ja seine strammen Männer, ihm religiös unbedingt ergeben. Bis dann einer von ihnen Zweifel an ihrem Tun bekam. Da half nur noch … Wie nannten Sie es? Eine Art Trance! Niedliche Umschreibung, beinahe selbst schon Beteiligung an der Vertuschung. Der Guru also steht vorne, an erhöhter Stelle, und lässt die Jünger in die Knie sinken. Dorthin, wo am Boden schon die Schicht Kohlenmonoxid schwebt, die alle Probleme wunderbar sanft löst.«
Sophia wandte sich von diesem Angeber ab. Seine Version war doch nichts als ein Strohfeuer. Ein paar heißgelaufene Nichtigkeiten, mehr erwartete er nicht von der ganzen Geschichte. Bei solchen Kollegen könnte sie vielleicht die eine oder andere Information über Robert erhalten, aber ihn verstehen musste sie selbst, sie alleine. Verstehen und keine billigen Vermutungen anstellen, noch viel weniger ihn unter einem Berg von Klischees begraben. In diesem Moment war sie wie eine Taucherin, die unter der Wasseroberfläche auch das vertraute Ringsherum hinter sich lässt, lassen muss. Verstehen muss man wollen. Jack hatte von einem Geheimnis gesprochen. Ob er wusste, was er damit sagte? Ja, es traf zu, dieser Robert Schönherr hatte ein Geheimnis, es hatte diese Gesichter berührt, und sie wollte es verstehen. Sophia war Journalistin geworden, weil sie voll Neugier war und täglich das Fremde suchte. Sie kommunizierte gerne, konnte zuhören und andere wunderbar unterhalten. Sie war in der Lage, von einem usbekischen Tierarzt oder von der Kairoer Börse so zu schreiben, dass jeder, der nur zehn Zeilen zu lesen begann, auch den Rest verschlingen musste. Manchmal verkroch sie sich einen ganzen Tag lang hinter einem enormen Soziologie- Schinken und ging dann abends noch auf eine Party, um sich die Seele aus dem Leib zu tanzen. Ein anderes Mal konnte sie auf einen Schlag alles stehen und liegen lassen, um von ihrem kräftigen Körper zwei Stunden Joggen auf der großen Isarrunde zu verlangen. Sophia lebte ein erfülltes Leben, selbstbestimmt und tolerant, und sie machte Menschen nicht zu Göttern. »Let it be« war ihre Devise. Alles erfahren und nichts verurteilen. Leicht bleiben und sich zwischen allem in der Schwebe halten. Doch jetzt auf einmal hatte ihre Lebensphilosophie einen Riss erhalten. Nur ein Haarriss, aber nicht mehr zu ignorieren. Denn was sie auf Jens’ Bildern gesehen hatte, war wirklich und keine Trance, kein Opiumrausch. Wenn es aber wirklich war, dann war es nicht beliebig. Es stellte Fragen, denen man nicht ausweichen konnte. Wie lebt einer, der den Seinen ein solches Sterben geben konnte? Was war er für einer? Was wollte er? Das geöffnete Fenster!, durchfuhr es sie. Bei diesem Gedanken ging ihr mit einem Mal auf: Ja, es traf sicher zu, was die Polizei vermutete, jemand war noch einmal in den Keller gekommen. Dieser Jemand war Robert. Er musste in der Nacht oder am Morgen noch einmal zurückgekehrt sein. Dabei hatte er die Fünf gesehen. Ihre seligen Gesichter. Sophia hatte hier nichts mehr verloren, stand auf und verließ den Raum. Einige Blicke folgten ihr.
»Sie heißen?« Kommissar Landolfs letzte Berührung mit der Kirche lag schon Jahre zurück. Seiner Meinung nach hätten Pfarrer gerade genug damit zu tun, bei einem Unglück die Angehörigen zu beruhigen. Alle weiteren Ansprüche kamen ihm wie die Abschweifungen eines Tatverdächtigen vor, und nichtssagende Verhöre gehörten für ihn nun einmal zu dem nicht wenigen, was ihm seine Tätigkeit als Ermittler seit Jahren verleidet hatte. Auf der anderen Seite eines Klausurgitters stand ihm nun eine der beiden einzigen Schwestern des Unglücksklosters gegenüber. Ihr ledriges, straffes Gesicht hätte denjenigen eine Warnung sein müssen, die bei der Klosterauflösung auf die biologische Lösung gesetzt hatten. Erstmals seit langem regte sich in Landolf ein Anflug von Neugier. Er war ins Sprechzimmer bestellt worden. Dann war die Schwester eingetreten und hatte sich neben einen Hocker ohne Lehne gestellt. Sie hatte ein Kreuz über sich geschlagen, sich aber nicht niedergelassen. Selbst im Stehen überragte sie den Kommissar kaum, der doch sitzen geblieben war. Für den Bruchteil einer Sekunde warf sie einen Blick auf ihn, aber nicht flüchtig, sondern so durchdringend, als ob er nichts vor ihr hätte verbergen können. Wie hatte sie es nur gelernt, in einem Augenblick ihr Gegenüber so umfassend zu ermessen? Graugrüne Augen in knochigen Höhlen sammelten ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Besucher, und ungehindert glitt ihre Wahrnehmung in sein Inneres, als läge es offen vor ihren Augen. Landolf empfand diesen Blick keineswegs als aufdringlich. Im Gegenteil, er kannte das: die Augen einfach nicht wie die anderen vor etwas verschließen zu können. Beinahe fühlte er Sympathie. Die Schwester schwieg und schaute nur. Kaum merklich drückte sich ihre Oberlippe auf die Zähne. Schließlich öffnete sich ihr Mund zu einem Lächeln. Mehr nicht. Weiterhin schwieg sie. Nur ihre Augen senkte sie zu Boden.
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