Die Nebelwarnanlage von North Stack kann man vom Leuchtturm aus sehen. Sie kauert auf Felsen, die ins Meer hinausragen, als wollten sie die Wellen möglichst früh begrüßen. Die Entfernung scheint überschaubar zu sein, und der Mann, der die Tickets verkauft, meint, dass man zu Fuß eine halbe Stunde braucht. Also mache ich mich auf den Weg, der nah an der Küste entlangführt, aber schon nach der ersten Biegung verliere ich mein Ziel aus dem Blick. Der steinige Pfad ist nur ein schmaler Saum, der aus dem kniehohen Heidekraut und dem Ginster herausgeschnitten wurde, die das Land bedecken, das hier in Wellen verläuft und auf die Formen im Meer tief unter mir zu antworten scheint. Einige Spaziergänger haben sich offenbar einen eigenen Weg gebahnt, sicherlich mit geeigneterem Schuhwerk ausgestattet, als ich es bin, denn durch das Gestrüpp ziehen sich kleinere blanke Streifen aus blassem Sandstein und türkisfarbenem Schiefer. Bäume wachsen hier keine, und die Landschaft provoziert Irrtümer darüber, wie groß oder klein, nah oder fern Dinge sind.
Ich passiere eine Geländekuppe nach der anderen und gehe bei jeder davon aus, dass sie mir den Blick auf eine Klippe mit der Nebelwarnanlage eröffnet. Doch was mich nach jeder Erhebung erwartet, ist eine neue Senke mit noch mehr Ginster und noch mehr Heidekraut. Der Weg führt mich entlang des Holyhead Mountain, der hier unten nicht wie ein Berg aussieht, sondern wie ein Gletscher, der aus dem Unterholz hervorbricht – eine verwinkelte Scherbe aus grauem Quarzit, die das Licht reflektiert. Hoch über mir, hier und da hinter Wolken verborgen, ziehen Flugzeuge vorbei, der Klang ihrer Triebwerke löst sich von ihnen ab und erfüllt die Luft, sodass man meinen könnte, in den Wolken steckten Lautsprecher.
Eine Stunde nachdem ich die Sicherheit von South Stack verlassen habe, erreiche ich endlich die Nebelwarnanlage. Sie liegt in einer Schattenzone am Fuße steiler Klippen und am Ende einer abschüssigen Zufahrt, die aus Material gebaut wurde, das sich einer Zerstörung verdankt – Steine und Beton, aus dem einst rote und grüne Mauern geformt waren. Ich rutsche und stolpere hinab bis zur äußeren Begrenzungsmauer der Anlage, wo ich schnaufend eine Pause einlege und nach Luft schnappe. Als sich mein Atem wieder beruhigt hat und das Blut nicht mehr in meinen Ohren pocht, wird es um mich herum still. Ich nehme meine Umgebung mit allen Sinnen auf und spüre förmlich, wie sich hinter mir die Landschaft aufbäumt und erhebt, als wolle sie mir über die Schulter blicken. Jetzt erst wird mir klar, dass ich von der eigentlichen Insel wie abgeschnitten bin. Hier kann mich niemand sehen, ich bin mutterseelenallein. Mein Telefon hat keinen Empfang, meine Wasserflasche ist leer, und für den Rückweg in die Zivilisation bleibt mir nur der steile Anstieg über die endlosen Hebungen und Senkungen, über die ich gekommen bin.
Von den 1850er-Jahren bis 1958 beherbergte die Nebelwarnanlage zwei Kanoniere und deren Familien. Wurden bei Nebel Schiffe im Hafen von Holyhead erwartet, mussten die Kanoniere alle fünfzehn Minuten zwei große achtzehnpfündige Kanonen mit drei Pfund Sprengstoff füllen und zünden. Wenn Nebel herrschte, aber kein Schiff erwartet wurde, betrug der Abstand zwischen zwei Signalen eine halbe Stunde. Für den Fall der Fälle wurde das Wetter unter Beschuss genommen, als befände sich der Mensch im Krieg mit der Natur. 15
Die Anlage besteht aus einem flachen, eingeschossigen Bau in Schwarz und Weiß. Auch wenn es nicht so wirkt, als könne man sich dort zu Hause fühlen, lebt heute eine Künstlerin darin. Ein Stück tiefer, aber noch innerhalb der weißen Mauer, die das Gelände umgibt, ist das gewölbte Dach des ehemaligen Schießpulverlagers zu erkennen, das inzwischen als Vorratslager dient. Die später eingesetzte Tür aus Sperrholz steht offen, und ein Keil verhindert, dass sie zufällt. Die Inschrift ist in der salzhaltigen Luft verblasst und kaum mehr zu entziffern, aber noch immer verbreiten die serifenlosen Buchstaben der Helvetica eine eindeutige Botschaft: ZUTRITT VERBOTEN. Ich hangele mich zwischen der Mauer und dem Rand der Klippe entlang, um einen besseren Blick auf das Gebäude zu haben, aber je näher ich ihm komme, desto weniger kann ich erkennen. Dafür wird der Boden unter meinen Füßen immer instabiler und geht schroff in einen salzigen Schlund über. Ich stelle mir vor, dass mich ein Windstoß packt und von der Klippe reißt, ich in die Tiefe falle und schließlich in die tosende Irische See stürze, ohne jede Chance, wieder herauszufinden oder mich schwimmend in Sicherheit zu bringen. Schließlich kehre ich auf festen Grund zurück. Liebend gern würde ich mich an den äußersten Punkt des Felsens stellen und auf die Klippen und das Meer schauen, aber ich komme nicht einmal in die Nähe. Zudem vermute ich, dass ich, wenn ich denn hinkäme, nicht das zu sehen bekäme, was ich erwarte.
1909 wurde hier etwa 150 Meter vor der Küste eine Unterwasserglocke installiert, die ihre Schallwellen in die trübe See aussenden sollte. Unter Wasser setzen sich Schallwellen schneller und weiter fort als an der Luft, und es ist auch leichter auszumachen, aus welcher Richtung sie kommen. Der Schall der Unterwasserglocke von North Stack drang wie ein Pfeil bis zu 25 Kilometer weit durch das Wasser. Zum Einsatz kam sie allerdings nur sehr selten, weil zwar nicht die Glocke selbst, aber die Technik extrem aufwendig war, denn Schiffe, die die Signale empfangen wollten, mussten mit einem speziellen Empfänger ausgestattet sein, der in den Rumpf integriert wurde. Der Vergleich mit dem Magnetbandsystem Betamax drängt sich auf: überlegene Technik, aber niemand will sie haben.
Bestellt worden war die Unterwasserglocke vermutlich vom Trinity House, der Leuchtfeuerverwaltung für England, Wales, die Kanalinseln und Gibraltar. Die schottischen und irischen Leuchtfeuer werden vom Northern Lighthouse Board (dem auch die Leuchttürme auf der Insel Man unterstehen) beziehungsweise den Commissioners for Irish Lights verwaltet. Beides sind Gründungen des 18. Jahrhunderts. Die Leuchtfeuerverwaltung der USA entstand 1851 und ersetzte eine Behörde namens Lighthouse Establishment, die sich ein Jahrhundert lang um die Sicherheit der Schifffahrt gekümmert hatte. Das indische Lighthouse Board wurde 1929 von Kolonialbeamten gegründet, die damals auf dem Subkontinent noch das Sagen hatten. Die russischen Leuchtfeuer befinden sich im Besitz und unter der Obhut der russischen Marine. In Japan unterstehen alle Seezeichen, also auch Leuchttürme, der Küstenwache, in anderen Ländern, darunter Iran, Namibia und Südafrika, sind sie den Betreibern von Häfen und anderen mit der Seefahrt befassten Betrieben zugeordnet. Trinity House ist daher eine ungewöhnliche Institution, denn sie vertritt zwar hoheitliche Aufgaben, kann dabei aber unabhängiger entscheiden als andere Organisationen mit vergleichbarer Zuständigkeit. Zudem ist sie mindestens hundert Jahre älter als alle anderen Leuchtfeuerverwaltungen dieser Welt, denn gegründet wurde sie von Heinrich VIII. im Jahr 1514.
Trinity House begann als loser Zusammenschluss von Kapitänen, die um die Sicherheit von Schiffen und ihren Besatzungen besorgt waren. Verfolgt man die Geschichte ihrer Treffen zurück, landet man ganz in der Nähe meines Büros, genauer in der Kirche St. Clement’s in Leigh-on-Sea an der Themsemündung, in deren Umgebung von der Erosion bizarr geformte Steine wie zufällig hingeworfen herumstehen. Einer dieser Steine ist an der Oberseite rechteckig geformt, von Scharten und kleinen Kuhlen durchzogen. Er ist als »Machetenstein« bekannt, weil die Piraten an ihm ihre Messer geschärft haben sollen, wenn sie, vom Fluss kommend, den Ort überfielen. Das vernehmliche Schaben der Klingen auf dem Schleifstein war zugleich die makabre Warnung vor den Übeltätern. Im Altarraum im Inneren der Kirche weisen Gedenktafeln auf die Grabstätten einiger früher Mitglieder von Trinity House hin. Manche stammen aus einer Zeit, in der die Namen der Bestatteten noch Hinweise auf ihre Berufe gaben. Laut Domesday Book, dem ältesten britischen Grundbuch, verdienten die Salmons ihr Geld mit dem Fischfang, und Robert Salmon war eines der ersten, Master genannten Oberhäupter von Trinity House. Durch Menschen wie ihn gewann Trinity House an Macht und Einfluss, die die Organisation nicht nur dazu nutzte, um die britische Küste mit Licht zu versehen, sondern auch dazu, ihr eine Stimme zu verleihen.
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