Ein Jahrhundert vor der Erfindung von GPS war Nebel eine große Gefahr für die Hochseeschifffahrt, weil er sowohl die Gestirne, die für die Navigation benötigt wurden, als auch das Land verbarg, das ersatzweise Orientierung hätte bieten können. Die Untersuchung des Untergangs der Anglo Saxon ergab, dass Kapitän William Burgess zwar ein erfahrener und umsichtiger Seemann gewesen war, es aber versäumt hatte, das Lot einzusetzen, um Wassertiefe und Beschaffenheit des Meeresbodens zu ermitteln. 23Eine weitere Erkenntnis lautete, dass ein Nebelhorn Menschenleben hätte retten können. Dieser letzte Punkt wurde von den Medien aufgegriffen und führte zu einem Aufschrei der Öffentlichkeit. Telegramme mit den neuesten Entwicklungen wurden verschickt, wofür Unterseekabel verwendet wurden, die auch an der Unglücksstelle verliefen.
Auf beiden Seiten des Atlantiks bangten derweil Menschen um das Leben von Angehörigen. Die Zeitungen druckten Listen mit den Namen von Geretteten, nicht selten allerdings falsch geschrieben. Über New York erreichte die Meldung vom Schiffsuntergang am 30. April auch den irischen Cork Examiner . Anfang Mai kursierten in ganz Irland, Großbritannien und Nordamerika Berichte und Meldungen. Am 1. Mai setzte der New York Herald mit der Überschrift eines Artikels den Ton, den die Berichterstattung annehmen sollte. »Wer ist für den Untergang der Anglo Saxon verantwortlich?«, hieß es dort. Der Artikel identifizierte das Fehlen eines Nebelhorns als Auslöser der Katastrophe und forderte die britische Regierung auf, die Aufstellung eines solchen Apparates zu ermöglichen, auch wenn die Untersuchung des Hergangs zu einem weniger eindeutigen Ergebnis kam. Gleichwohl dauerte es bis 1873, bis Kap Race mit einem Nebelhorn ausgerüstet wurde, und das geriet eher kümmerlich. Erst 1907 wurde ein Nebelhorn installiert, das stark genug war, um den Nebel zu durchdringen und sich auf dem offenen Meer bemerkbar zu machen. Doch auch damit war die Geschichte der Schiffsuntergänge in dieser Region nicht beendet.
Der Verlust an Menschenleben beim Untergang der Anglo Saxon war enorm, aber letztlich nicht ungewöhnlich. In einer zeitgenössischen Quelle habe ich die Angabe gefunden, dass allein vor Kap Race zwischen 1866 und 1904 vierundneunzig Schiffe gesunken sind. Vor der Küste Neuseelands war wenige Monate vor der Anglo Saxon ein Schiff namens Orpheus untergegangen, wobei 189 Menschen starben. Doch diese Zahlen verblassen in Anbetracht der Millionen, die bei der Verschiffung von Sklaven im Nordatlantik ertrunken sind. Im Falle der Anglo Saxon war die Anteilnahme der Menschen, die sich auf die Zeitungsberichte stürzten, vor allem deshalb so groß, weil es sich bei den Opfern um weiße Europäer handelte.
Zu dieser Zeit sahen sich viele Europäerinnen und Europäer gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und in Übersee neu zu beginnen. Die weitaus meisten davon reisten mit dem Schiff. Zwischen 1800 und 1845 waren 1,5 Millionen ausgewandert, zwischen 1871 und 1891 waren es sage und schreibe 27,6 Millionen. 24Diese Zahlen bedeuteten auch, dass die Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks mit Seereisen mindestens vom Hörensagen vertraut waren, weil die meisten Freunde oder gar Familienangehörige hatten, die auf diese Weise den Ozean überquert hatten. Der Historiker Gillian Beer vertritt die These, dass die Briten des 19. Jahrhunderts »sehr viel besser wussten, was der Ausdruck Seegang besagt, als wir heute. Sie haben es am eigenen Leibe gespürt. Sie selbst, ihre Verwandten oder Bekannten waren gezwungen, per Schiff zu reisen, oft über große Strecken. Emigration, Imperialismus und Handel waren ohne längere Seereisen undenkbar.« 25
In den Jahrzehnten rund um das Unglück vor Kap Race war es gewissermaßen an der Tagesordnung, dass Schiffe bei Nebel auf Grund liefen oder untergingen, vor allem im Seegebiet vor Neufundland. Eine aktuelle Liste für Wracktaucher enthält 318 Einträge allein für diesen Küstenstreifen. Die bekanntesten Verluste sind die Dampfschiffe Acis, Acton, Rhiwderin, Mariposa und Rhodora . Ihnen allen wurde Nebel zum Verhängnis. Aber nicht nur vor Neufundland gingen Schiffe auf diese Weise verloren. Nebel war lange vor der Erfindung des Nebelhorns eine Gefahr, und er blieb es auch danach.
In den späten 1960er-Jahren veröffentlichte der Bibliothekar Charles Hocking ein zweibändiges Werk, das wie eine Doktorarbeit daherkam und jedes Schiffswrack benennt, das zwischen 1824 und 1962 zu beklagen war. Hinter Kriegsverlusten durch U-Boote rangiert Nebel auf Platz zwei der Ursachen. Der Zeitraum, den Hocking untersucht hat, mag willkürlich erscheinen, aber bestimmt wird er durch die ersten belastbaren Statistiken auf der einen Seite und den Beginn der Containerschifffahrt auf der anderen. Vor 1824 mag alles noch schlimmer gewesen sein – schlechte Seemannschaft und mangelhaft ausgerüstete Schiffe waren die Regel, und die Sklaverei forderte wie gesagt zahllose Opfer. Die allermeisten von ihnen sind im Atlantik gestorben, sodass Bilder vom Sonnenuntergang auf einer friedlichen See keine Idylle zeigen, sondern ein Massengrab.
Seit jeher hat sich die Musik der auf See Gebliebenen angenommen und ihr Schicksal beklagt, von traditionellen Folksongs wie Sweet William , in dem eine junge Frau einen Seemann beweint, der nicht zurückgekommen ist 26, bis hin zur Musik des 1990 gegründeten Detroiter Duos Drexciya, das sich in seiner Arbeit auf einen subaquatischen Afrofuturismus berief. Seine Tanzmusik verhieß all jenen Erlösung, die über Bord gegangen und ertrunken waren. Die Kinder schwangerer Sklavinnen, so die Vorstellung, hatten überlebt und waren unter Wasser herangewachsen. Diese Lesart misst zugleich die Abgründe aus, in denen die menschliche Moral zu versinken droht, und stellt ihnen ein akustisches Bild gegenüber, in dem dem Meer die Rolle als Erneuerer des Lebens zukommt.
Systematisch erfasst wurden Schiffsverluste erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, auch wenn es aus vorherigen Jahrzehnten einzelne Statistiken gibt. Für das Jahr 1816 verzeichnete Lloyd’s of London 362 (aus diversen Gründen) verlorene oder vermisste Schiffe. Gezählt wurden aber nur Schiffe ab einer gewissen Größe, kleinere wie Fischer- und Sportboote fielen durch den Rost. Und schon gar nicht waren alle Gegenden der Welt erfasst. Auch in Hockings Zusammenstellung kommen Fischer- oder Segelboote nicht vor und ausländische Schiffe nur, wenn sie mehr als 1000 Tonnen verdrängten. Solcherlei Einschränkungen und Auslassungen gilt es zu bedenken, wenn man sich über das Werk beugt, weil sie dessen Nutzen begrenzen, aber nachdem ich die beiden Bände durchgearbeitet und jeden Eintrag, bei dem Nebel eine Rolle spielt, mit einem Klebezettel markiert habe, sehen sie aus, als kämen sie direkt von einer makabren Konfettiparade, bei der jeder Schnipsel für eine Tragödie stand.
Das britische Dampfschiff Sobraon lief 1901 bei dichtem Nebel vor der Insel Tungyin auf Grund; 1899 hörte die mit Osterausflüglern voll besetzte Stella das Nebelhorn auf den Casquets zu spät und prallte gegen den unweit von Guernsey gelegenen Black Rock. Sie sank binnen acht Minuten. Im Jahr zuvor hatte die Channel Queen dasselbe Los ereilt. Zwanzig Menschen kamen zu Tode, als die Sirius – das erste Dampfschiff, das den Atlantik überquerte – sank, nachdem es zunächst einen Felsen in der Bucht von Ballycotton gerammt hatte und wieder freigekommen war, nur um schließlich mit einem Leck im Rumpf an den Smith’s Rocks ganz in der Nähe zu enden. Auf der Flucht vor den im Ärmelkanal patrouillierenden britischen Kriegsschiffen lief der Viermaster Afghanistan bei Nacht und Nebel vor Dungeness auf Grund, achtzehn Menschen starben. Das Dampfschiff Adelfotis aus Costa Rica, das mit Ammoniumsulfat beladen war, brach am vorletzten Tag des Jahres 1956 nach einer Grundberührung im Nebel in zwei Teile. Das britische Dampfschiff Alecto kollidierte 1937 mit der Plavnik . Das griechische Dampfschiff Aliakmon gehörte zu einem Kriegskonvoi, der von Loch Ewe nach Nova Scotia wollte. Es ging unterwegs im Nebel verloren und ward nie wieder gesehen. Die vermeintlich unsinkbare Andrea Doria stieß bei dichtem Nebel mit der Stockholm zusammen und legte sich derart stark auf die Seite, das zweiundfünfzig Menschen den Tod fanden. Die Sirenia sank 1888 vor der Isle of Wight, nachdem sie bei dichtem Nebel auf die Felsen von Atherfield Ledge gefahren war. Bei dem Versuch, Menschenleben zu retten, ertrank die Besatzung eines der Rettungsboote. Nachdem die Spirit of Dawn 1893 vor Antipodes Island südlich von Neuseeland auf Grund gelaufen war, ernährten sich die elf Überlebenden siebenundachtzig Tage lang von Vögeln, Muscheln und Pflanzen und wurden nur gerettet, weil einem Passagierschiff die Flagge aus Segeltuch auffiel, die die Schiffbrüchigen auf der höchsten Erhebung der Insel aufgestellt hatten.
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