Nebelhörner wurden nicht an stillen Küsten aufgebaut, sondern an Orten, die von Sprengstoffexplosionen und Glockenläuten erfüllt waren, von Geräuschen, die von Uhrwerken, Feuerkraft und, in einem Fall, von einem Pferd erzeugt wurden.
Der älteste überlieferte Hinweis auf ein Tonsignal, das für Schiffe gedacht war, die von Nebel überrascht wurden, stammt aus dem Jahr 1771 und wird heute in der Nationalbibliothek von Schottland verwahrt. Er gehört zu einer Sammlung von Schriftstücken der Familie Stevenson, einer Dynastie von Ingenieuren, die sich vor allem im 19. Jahrhundert um den Bau von Leuchttürmen verdient gemacht hat. Ich sitze im kühlen und stillen Lesesaal der Bibliothek, nehme das lose Blatt vorsichtig aus der Mappe und lege es vor mich auf den Tisch. All die Jahre überdauert hat es nur, weil sich auch in einem früheren Jahrhundert jemand für derlei Ephemera interessiert, wenn nicht begeistert hat.
Als ein Mitglied der Familie Stevenson das Blatt an sich nahm und sicherte, war es bereits ein Jahrhundert alt. Es ist mit tiefschwarzer Schrift und einem Holzschnitt bedruckt, der Bamburgh Castle zeigt, das an der Küste Northumberlands liegt. Der Text handelt davon, dass »am Südturm bei dichtem Nebel eine Glocke geläutet wird, die den Fischern Orientierung bieten soll«. Auch von Kanonenschüssen ist die Rede, zudem – in einem Bild, das an den Song All Along the Watchtower denken lässt – von zwei berittenen Männern, die bei stürmischem Wetter an der Küste patrouillieren. Dem, der als Erster ein Schiff in Seenot entdeckt, wird eine Belohnung versprochen, die für die Zeit nach Mitternacht doppelt so hoch ausfallen soll. So sollten müde Reiter wohl dazu animiert werden, wachsam zu bleiben.
Vielleicht wurde dieses Blatt aufbewahrt, um in eine Geschichte der Küstennavigation einzufließen, vielleicht hat es auch nur zufällig überlebt. Wie auch immer – für mich ist es ein wichtiges Puzzleteil, das mir in Druckschrift bestätigt, dass an den Küsten schon ein Jahrhundert vor der Erfindung des Nebelhorns, wie wir es heute kennen, eine warnende Stimme erklang, und diese Stimme äußerte sich entweder in Glockengeläut oder in Kanonensalven. Den Text des Blattes schreibe ich Wort für Wort ab, dann lege ich es zurück in die Mappe, verschließe die Verschnürung aus Baumwolle und beende meine stumme Recherche, indem ich das Ganze dem Archivar übergebe.
Die meisten Menschen, die sich für alte Technik begeistern, wählen Maschinen und deren Bewegungen als Objekte ihrer Leidenschaft – Kolben und Ventile, Kupfer und Stahl. Für mich und einige andere, die von Nebelhörnern fasziniert sind, besteht der besondere Reiz in dem paradox anmutenden Bestreben, etwas Flüchtiges und Immaterielles wie den Klang im Wortsinn begreifen zu können. Deshalb beugen wir uns über Unterlagen und Dokumente, Mechaniken und Maschinen. Meine Suche gilt den unterschiedlichsten Klängen, egal ob sie mich vermittelt auf Papier oder unvermittelt durch das Gehör erreichen, etwa wenn ich unter einem Schalltrichter eines Nebelhorns kauere. Zu meiner Recherche gehören rituelle wie zufällige Begegnungen ebenso wie der Respekt vor Holzschnitten von Burgen und vor kommunalen Verlautbarungen. Denn die Frage, um die es geht, lautet nicht, wie ein Nebelhorn klingt, sie lautet, wie es für die Menschen geklungen hat, die es an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit gehört haben.
Meine Leidenschaft für Nebelhörner gilt nicht der Maschine selbst, sondern ihrem Klang und dem Kontext, in dem er steht. Das Blatt mit dem Holzschnitt war mir daher eine Art Leitfaden, eine Größe, an der ich mich orientieren konnte, weil mit diesem Fund die Küsten einen vernehmbaren Klang bekamen, genauer gesagt ein diffuses Gemisch aus Klängen, in dem Glocken, Sprengstoff und von Tieren angetriebene Sirenen mitmischten. Zu verdanken habe ich dieses Erlebnis Menschen wie den Stevensons, die Dinge am Wegesrand aufgelesen und aufbewahrt haben. Und so machte ich mich auf den Weg in den hintersten Winkel von Wales, wo, wie ich bald herausfand, auf einer einer Insel vorgelagerten Insel, die wiederum einer Insel vorgelagert ist, eine Ahnengalerie der Schallsignale zu bestaunen ist, die von Glocken über Kanonen bis zu Nebelhörnern reicht.
Der Leuchtturm von South Stack steht auf einem schmalen Felsen vor der Westküste von Holy Island in Anglesey (auf Walisisch Ynys Môn genannt) im Norden von Wales. Auf der Insel finden sich prähistorische Menhire und Grabhügel, denen sie ihren Namen verdankt. Das Gestein ist bis zu 570 Millionen Jahre alt und die Geologie vielfältiger als fast überall sonst im Vereinigten Königreich.
An einem sonnigen Tag im August streut eine leichte Brise nur leichte Kräusel über dem Meer aus, das mit gedämpfter Stimme die Felsen umspielt. Den strahlend weiß gestrichenen Leuchtturm erreicht man über eine Treppe mit vierhundert Stufen, die sich durch das Grün von Moos, das Grau der Steine, das Kanariengelb des Ginsters und das Violett der Erika winden. Am Fuß der Treppe erwartet die Besucherinnen und Besucher ein Abgrund, über den eine schmale Brücke führt. Früher einmal gab es hier lediglich ein Hanfseil, das 21 Meter über dem Meer gespannt war. Wer oder was zum Leuchtturm wollte oder sollte, gleich ob Menschen oder Vorräte, musste in einen großen Korb verfrachtet und, begleitet vom Grollen und Tosen der Wellen tief darunter, auf die andere Seite gezogen werden.
Nach Passieren der Brücke schließe ich mich der offiziellen Führung an, die uns in den Maschinenraum des Leuchtturms führt, der heute ein Informationszentrum beherbergt, in dem über die Leuchtturmwärterinnen und -wärter und deren Leben auf dem Felsen berichtet wird. Anschließend folgen wir dem Führer über eine Wendeltreppe in das Lampenhaus, wo wir durch die mit einer Salzkruste überzogenen Fenster auf den Horizont schauen und die Regenbögen bestaunen, die sich beim Blick durch die Prismen ergeben, aus denen sich die Linse zusammensetzt. Wir hören gebannt, dass bei dem Hurrikan, der vor zwei Jahren wütete, die Wellen mit solcher Wucht auf den Leuchtturm einschlugen, dass die unten liegenden Fenster zerstört wurden und die Gischt die Spitze erreichte, obwohl sie sechzig Meter über der Meeresoberfläche liegt. Wenn hier Nebel aufzieht, so unser Führer, kann man aus dem Lampenhaus nicht einmal das Wasser sehen, sodass man meint, man würde in der Luft schweben.
1864 wurde der Leuchtturm von South Stack mit einer Glocke ausgestattet, die gut zwei Tonnen auf die Waage brachte und genauso gut ein Rathaus oder eine Kathedrale hätte schmücken können. Doch im rauen und salzhaltigen Meeresklima erwiesen sich die Glocke und die sie antreibende Mechanik als ausgesprochen unzuverlässig.
Heute kommt hier ein modernes Nebelsignal zum Einsatz, eine Ansammlung elektrischer Sirenen, die wie ein aufwendiges Lautsprechersystem aussehen – etwa so, als hätte man mehrere Tieftöner aneinandergebunden und weiß angestrichen. Um sie besser sehen zu können, stelle ich mich auf die Zehenspitzen und beuge mich über den Zaun, der mich von ihnen trennt, bis die Aufforderung ergeht, es zu unterlassen. Näher werde ich dem Nebelsignal nicht kommen, weil das Gelände, auf dem es steht, brüchig und der Zutritt deshalb verboten ist. Außerdem behauptet unser Führer, er habe den Schlüssel für das Tor nicht dabei (was mich nicht überzeugt). Den Rest der Tour verbringe ich mit der Wunschvorstellung, die Frequenz dieser neuartigen Sirenen, die im Sopran erklingen, auf das tiefe Grummeln der alten Nebelhörner einzupegeln und mich davorzustellen, während sie aufs Meer hinausschreien. An dem modernen Signalsystem selbst habe ich einstweilen kein Interesse, da es mich von meinem Thema nur ablenkt.
Über einen Pfad entlang der Küste der Landzunge kommt man von South Stack aus nach North Stack und von dem neuen Nebelsignal zu einer Nebelwarnanlage alten Schlages. Für diese Anlage interessiere ich mich sehr, weil hier ein in Vergessenheit geratener Abschnitt der Wissenschafts- wie der Klanggeschichte zu Hause ist. Teile davon haben sich unter der Wasseroberfläche abgespielt, wo geheime neuartige Navigationshilfen getestet wurden. Überreste davon mögen dort heute noch auf dem Meeresgrund liegen und Krebsen und anderem Getier eine Heimstatt bieten.
Читать дальше