Auch andere Schallquellen wurden im Nebel eingesetzt, einige abseitiger als andere. Unweit des Longships Rock diente das Tosen einer Höhle als natürliches Warnsignal – das man leider nicht abschalten konnte. Der Wolf Rock vor der Küste Cornwalls verdankt seinen Namen hingegen dem Umstand, dass der Wind heulend durch eine Höhle strich, die das Wasser in den Stein gegraben hatte. Als hier noch kein Leuchtturm stand, machten sich Strandräuber diesen Umstand zunutze, indem sie den Zugang zur Höhle verstopften und dadurch Schiffe auf den Felsen lockten. Deren Ladung, aber auch das wertvolle Material, aus dem sie gebaut waren, gaben eine lohnende Beute ab. 20Schwieg der Wolf, war das ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Strandräuber bei der Arbeit waren.
In den 1850er-Jahren wurde auf den Farallon-Inseln, gut sechzig Kilometer vor San Francisco gelegen, eine Felsspalte mit einigen Tausend Backsteinen, vierzig Fässern Zement und einer Pfeife befüllt. Strömte Wasser hindurch, wurde die darin befindliche Luft verdrängt, und die Pfeife machte sich vernehmlich bemerkbar. Auf der Insel Helgoland wurde eine »Rakete gestartet und in einer Höhe von gut zweihundert Metern zur Explosion gebracht«. So beschreibt es 1913 ein Buch von F. A. Talbot über Feuerschiffe und Leuchttürme.
Auch der Klang von Vogelstimmen wurde bei Nebel als Navigationshilfe verwendet. In einem Buch von 1880, das ebenfalls von Leuchttürmen handelt, wird berichtet, dass »an der Küste von Wales viele Tausend Seevögel, die in den hoch aufragenden Klippen leben, auf den felsigen Simsen hocken und durchdringende Schreie ausstoßen«, anhand derer Schiffe sich orientieren können. Illustrierte Entwürfe eines von Pferden angetriebenen Nebelhorns, die heute im Nationalarchiv des Vereinigten Königreichs liegen, zeigen ein nervös wirkendes Pferd, das am Eingang eines kreisrunden Gebäudes steht und in einen Drehmechanismus eingespannt ist, der eine Sirene antreibt, sobald sich das Pferd in Bewegung setzt. Wie gut das System funktioniert hat, bei dem das arme Tier der Schallquelle bedrohlich nahe kam, ist nicht überliefert.
Es gab Zeiten, da hing das Leben vieler Seeleute von Menschen wie Maloney oder Juliet Nichols und dem Schweiß ihrer Arbeit ab. Voraussetzung war, dass sie sich früh genug bemerkbar machen konnten. Der Knall einer Kanone war so kurz, dass man ihn leicht überhören konnte, und das Läuten einer Glocke so leise, dass es nicht sonderlich weit trug. Seeleuten blieb daher oft nur wenig Zeit, den Kurs noch zu ändern. Unterwasserglocken, wie sie in North Stack ausprobiert wurden, konnten sich nie durchsetzen. Den Hafen in Holyhead, zu dem sie die Schiffe führen sollten, gibt es natürlich immer noch. Heute verkehren hier vor allem Kreuzfahrtschiffe und Fähren, die Menschen nach Irland und zu weiter entfernten Zielen bringen. Von der Nebelwarnanlage aus kann man den Hafen nicht sehen, er gerät in meinen Blick, als ich mich zurück auf die Anhöhe über der Anlage gekämpft habe. Erst als ich die Sonne im Gesicht spüre, wird mir bewusst, dass ich mich die ganze Zeit im Schatten des ungleichen Zwillings des blinkenden Leuchtturms von South Stack aufgehalten habe. Und während der Leuchtturm noch heute in Betrieb ist, benötigen Schiffe, die Holyhead anlaufen oder es verlassen, die Kanonen von North Stack schon seit vielen Jahren nicht mehr. Nur die wenigsten werden das kleine Gebäude der Nebelwarnanlange bemerken, ein Stück Klanggeschichte an einer abgelegenen Ecke der Küste, versteckt unter Ginster, Felsen und stürmischer See. Nun kehre auch ich dieser vergangenen, abgeschlossenen Zeit den Rücken zu, und als ich mich noch einmal umdrehe, hat die Landschaft sie bereits verschluckt.
Kap Race ist eine Landzunge auf der Halbinsel Avalon im äußersten Südosten Neufundlands. Dort treffen der kalte, aus der Arktis kommende Labradorstrom und der warme Golfstrom zusammen. In der Folge entsteht Nebel, auf dem Meer wie an Land, wo zwischen Mai und Juli durchschnittlich einundfünfzig Nebeltage gezählt werden. Die Segelanweisungen für das Seegebiet sprechen von einem psychedelischen Farbwirbel im Wasser, der entsteht, wenn das olivgrüne Wasser des Labradorstroms sich mit dem ultramarinblauen Wasser des Golfstroms vermischt. Berüchtigt ist die Gegend auch für extreme Temperaturunterschiede. In nur einer Schiffslänge Abstand wurden gleichzeitig null und 40 °C gemessen.
1863 war das Dampfschiff Anglo Saxon auf dem Weg von Liverpool nach Québec und sollte auf Höhe von Kap Race Post übernehmen. 21Unter dem Kommando von Kapitän William Burgess befanden sich insgesamt 445 Menschen an Bord, viele davon junge Männer und Frauen aus Irland, manche davon noch minderjährig, die in Nordamerika ein neues Leben beginnen wollten. Am 25. April traf das Schiff auf Treibeis und eine Nebelbank, woraufhin es das Tempo drosselte. Das Wetter blieb bis in die Nacht hinein schlecht, besserte sich aber am Morgen des 26., ehe sich der Nebel wieder senkte und das Schiff einschloss. Nach zwei Tagen ohne jede Sicht geriet die Navigation zu einem Glücksspiel, und so erging am 27. April um 11:10 Uhr der Ruf, dass an Steuerbord Brandung zu sehen war. Für das Schiff war das die denkbar schlechteste Nachricht, denn Brandung bildet sich nur dort, wo die Wellen auf Land treffen.
Die Maschinen wurden auf äußerste Kraft zurück gestellt, doch es war zu spät, zumal der starke Seegang das Schiff Richtung Felsen trieb, auf dem es sich das Ruder, den Achtersteven und die Schraube abriss. Wasser strömte hinein, und die Evakuierung wurde eingeleitet. Als Erstes durften die Passagiere der ersten Klasse in die Rettungsboote steigen. Andere Passagiere retteten sich über eine umfunktionierte Spiere auf die Klippen. Den Anfang machten die Frauen. Um die Mittagszeit wurde das Wrack vom Felsen gehoben und schwamm kurz auf, ehe es zu sinken begann. Der Chefmaschinist beschrieb das Geschehen später als »entsetzlich« und zeichnete ein Bild des Grauens. Panik und Entsetzen machten sich breit. Laut Zeugenaussagen sprangen viele Menschen ins Wasser, als das Schiff von den Klippen glitt. Sie wurden von den Fluten mitgerissen. An Deck drängten sich Passagiere, die sich in Sicherheit zu bringen versuchten, als die Anglo Saxon sich selbstständig machte, aber sie landeten unterschiedslos im Wasser, und die meisten von ihnen ertranken.
Robert Allen, der Dritte Offizier, versuchte gemeinsam mit Kapitän Burgess in die Takelage zu klettern, aber als sich das Schiff auf die Seite legte, landeten beide im Wasser. Vor der Kommission, die das Unglück später untersuchte, verlieh Allen seiner Schilderung des grauenvollen Herganges eine Prise Galgenhumor, als er berichtete: »Unter Wasser bekam ich den Mantel des Kapitäns zu fassen, und da ich annahm, es sei eines der Segel, versuchte ich mich daran hochzuziehen, bis ich irgendwann den Bart des Kapitäns erreichte.«
Der Kapitän konnte nicht mehr aussagen. Er war in das Innere des Wracks geraten und hatte sich nicht mehr befreien können. So musste Allen zusehen, wie sein Chef ertrank. Er selbst erreichte ein provisorisches Floß, auf dem sich der Schiffskoch und einige Passagiere befanden. Zuvor hatten sie vergeblich versucht, einen Menschen zu retten, den sie im Wasser entdeckt hatten. Nun trieben sie orientierungslos durch den Nebel, bis der sich gegen Abend lichtete und sie Land sehen konnten. Derweil schickten jene, die sich auf die Felsen gerettet hatten, vier Überlebende mit dem Auftrag los, sich zum Leuchtturm durchzuschlagen, und zündeten ihrerseits ein Feuer an, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Abgesandten kehrten schließlich mit einem Boot der Associated Press zurück, das die Wartenden bergen und zur Telegrafenstation von Kap Race bringen konnte.
Bei dem Unglück kamen 237 Menschen ums Leben.
Ein Schicksal wie das der Anglo Saxon scheint aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit zu stammen. Tatsächlich aber sterben bis heute Jahr für Jahr viele Tausend Menschen, die sich auf überfüllten und kaum seetüchtigen Booten drängen. 22Und noch während Berichte über das Drama der Anglo Saxon auf beiden Seiten des Atlantiks die Runde machten, wuchs sich die Tragödie zu einem handfesten Skandal aus. Es stellte sich heraus, dass der Plan, am Kap Race ein Nebelhorn aufzustellen, auf Betreiben von Associated Press verworfen worden war, weil die Nachrichtenagentur um ihr Geschäft mit Wetterdaten fürchtete, die sie gemeinsam mit Postsendungen und Nachrichten an vorbeifahrende Schiffe auslieferte.
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