Um im Nebel sicher zu navigieren, war mehr erforderlich, als ein Nebelhorn oder eine Glocke zu hören. Dazu gehörten in erster Linie gute Seemannschaft, ein gut ausgerüstetes Schiff und eine Portion Glück. Wie groß der Anteil der Nebelhörner ist, lässt sich unmöglich sagen. Eine Glocke mag weniger gut zu hören sein, aber woran sollte sich festmachen lassen, welche Schiffe dank des Nebelhorns davonkamen und welche nicht? Ein Leuchtturmwärter kann vorbeifahrende Schiffe im Nebel nicht sehen, also weiß er auch nicht, wer das Nebelhorn hören könnte, das er wegen des Nebels angestellt hat. Vielleicht niemand. Das Nebelhorn kann einem Schiff in Bedrängnis mitteilen, dass es sich an der falschen Stelle befindet, aber aus der Bedrängnis heraus findet es nur mit Besonnenheit und Erfahrung, einer gut ausgebildeten Besatzung und der Einwilligung des Meeres. Deshalb gibt es auch nur wenige Fälle, bei denen der Nebel die einzige Ursache für tödliche Unfälle war.
Wenn es im 19. Jahrhundert zum Äußersten kam, gab es kein Sicherheitsnetz. Die Rettungsboote wurden zwar von tapferen Männern bedient, waren aber offene Ruderboote, und die Schiffe sanken oft binnen weniger Minuten. Tauchexpeditionen zu Wracks wie der Bismarck und der Titanic haben Bilder von Stiefeln mitgebracht, die dicht nebeneinanderstehen, als hielte der Besitzer nur ein kurzes Mittagsschläfchen auf dem Meeresgrund. In Wahrheit hat sich der Körper längst aufgelöst oder den Lebewesen der Tiefe als Nahrung gedient. Wenn im Nebel ein lautes Signal ertönt, ist das Ausdruck einer allerletzten Warnung und nicht die Rettung. Berichte vom Untergang der Anglo Saxon lassen aber den Schluss zu, dass die Menschen sich besser fühlten, wenn dieses Signal ertönte, auch wenn es eine Sicherheit verhieß, die nichts und niemand garantieren konnte.
Im selben Jahr, in dem sich das Unglück vor Kap Race ereignete, begannen Trinity House und der rührige Kaufmann und Erfinder Celadon Leeds Daboll einen regen Briefwechsel. Er begann mit dem Angebot Dabolls an den wissenschaftlichen Berater von Trinity House, Michael Faraday – dessen Arbeit zur Elektrizität für die Elektrifizierung der Leuchttürme gesorgt hatte –, sich den Zugriff auf das Nebelhorn zu sichern, das er, Daboll, erfunden hatte. 27Ein Nebelhorn jenes Typs hätte auch am Kap Race aufgestellt werden sollen, und entsprechend häufig wird in den Briefen Bezug auf die Tragödie genommen. Faraday war zu diesem Zeitpunkt bereits siebzig Jahre alt und kaum mehr imstande, seinen vielfältigen Aufgaben nachzukommen. Als Trinity House (unter Beteiligung des irischen Astronomen Thomas Romney Robinson) Faraday bat, Dabolls Nebelhorn zu testen, verstand er den Auftrag fälschlicherweise so, dass er eine neue wissenschaftliche Gesellschaft gründen sollte. Deshalb verweigerte er zunächst selbst die einfachsten Tests. Als das Missverständnis endlich ausgeräumt war, erklärte sich Faraday bereit, Dabolls Erfindung in Dungeness auf Herz und Nieren zu prüfen.
Die Landschaft von Dungeness ist oft beschrieben worden. Meist wird sie dabei die einzige Wüste Englands genannt, aber das zielt an den Tatsachen vorbei. Dungeness ist eine von Kies bedeckte Landspitze, auf der es ein Atomkraftwerk gibt, eine kleine Eisenbahn und einen Leuchtturm, der versetzt werden musste, weil sich der Verlauf der Küste änderte. Der Schriftsteller und Regisseur Derek Jarman verbrachte hier seine letzten Lebensjahre, in denen er den Garten seines Hauses künstlerisch gestaltete. Ganz in der Nähe stehen große Schallspiegel, die während des Ersten Weltkriegs entwickelt wurden, um sich nähernde Flugzeuge des Feindes frühzeitig orten zu können. Schon als sie aufgestellt wurden, war die technische Entwicklung darüber hinweggegangen. Es ist ein bizarrer Ort, an dem das Wetter ebenso ungehindert über die Ebene streicht, wie die Wellen an seinen Rändern nagen. Am 17. November 1863 wurde hier ein Prototyp von Dabolls Nebelhorn installiert, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer – häufig als Nebelhorn oder Dampfpfeife beschriebenen – Entwicklung von Frederick Holmes (der später am Souter Point ein Horn mit einem Rohrblatt als Tonerzeuger aufstellte) und der traditionellen Glocke des Leuchtturms. 28
Nachmittags fuhr Faraday mit einem Boot hinaus aufs Meer, um herauszufinden, wie weit der Klang des Horns trug. Unterwegs überkam ihn aber eine derartig heftige Übelkeit, dass er das Verfahren radikal abkürzte. Bereits gegen 16 Uhr war der Spuk beendet. In der kurzen Zeit hatte er kaum mehr als einen ersten Eindruck gewonnen, doch das genügte ihm, um die Wirksamkeit des Gerätes zu bescheinigen. So wurde Dungeness der erste Ort im Vereinigten Königreich, der ein Nebelhorn erhielt. Und wäre ihm Foulis’ dampfbetriebenes Gerät auf Partridge Island in der kanadischen Provinz New Brunswick nicht zuvorgekommen, wäre es das erste auf der ganzen Welt gewesen.
Im September 1864 erschien eine Nachricht für Seefahrer, die unscheinbar daherkam, aber eine akustische Revolution vermeldete: »Es wird darauf hingewiesen, dass die Glocke, die bislang bei unsichtigem Wetter am Leuchtturm von Dungeness erklang, mit dem heutigen Datum außer Betrieb genommen und durch ein stärkeres Nebelhorn ersetzt wird.«
Dass Mitte des 19. Jahrhunderts in Dungeness das erste Nebelhorn installiert wurde, war indessen alles andere als ein Zufall. In den Jahren rund um das Unglück vom Kap Race versank auch London, wo Trinity House residierte, regelmäßig im Nebel. Die Stadt war um zahllose Häuser und Fabriken gewachsen, und für die Höhe der Schornsteine gab es keinerlei Vorschriften. So bliesen sie Rauch und mit festen Partikeln angefüllten Ruß in geringer Höhe in die Luft, wo sich beides mit dem Nebel aus dem Flussbett der Themse zu einem fauligen und giftigen Gasgemisch verband, das zahllose Menschen und Tiere dahinraffte – mitunter in erschreckend kurzer Zeit. In ihrem Buch über den Londoner Nebel berichtet Christine Corton von einem grausigen Zwischenfall auf dem Markt von Smithfield, wo eine ganze Rinderherde qualvoll erstickte, ehe sie den Besitzer wechseln konnte. Zu sehen war die Szene wegen des dichten Nebels nicht, aber das Geräusch der verendenden Tiere drang ungehindert durch die gelbliche Suppe. 29Der Versuch, einheitliche Vorschriften zu erlassen, scheiterte an der Uneinigkeit über die Frage, was die Ursache der Luftverpestung war. Die Fabrikbetreiber verwiesen auf den Hausbrand, Hausbesitzer auf die Schlote der Industrie. Erst nach der Smog-Katastrophe von 1952, bei der London vier Tage am Stück unter einer Giftwolke gelegen hatte, wurden Gegenmaßnahmen eingeleitet. Von derlei Katastrophen war die Stadt auch früher schon heimgesucht worden – am schlimmsten wohl im Jahr 1879, als der Smog vier Monate lang nicht weichen wollte. Auch als in Dungeness das Nebelhorn montiert wurde, litt London unter massiver Luftverschmutzung und damit unter einem Problem, das einer Lösung harrte.
Künstler, die in dieser Zeit London besuchten, haben in ihren Werken dokumentiert, was sie dabei sahen – oder eben nicht sahen. Oscar Wilde schrieb 1889, dass London Nebel sicherlich schon seit Jahrhunderten kenne, aber »es gibt ihn erst, seit die Kunst ihn erfunden hat«. Der französische Maler Gustave Doré hielt sich 1870 in London auf. In dieser Zeit entstanden Stiche, in denen der Tag nicht von der Nacht zu unterscheiden ist. Der Nebel hinterließ seine Spuren in der Hoch- wie in der Alltagskultur und hielt auch in der Massenliteratur des 19. Jahrhunderts Einzug. In diesem Genre wurde London mehrfach auf unterschiedlichste Weise unter dem Schleier des Nebels oder gar von Nebel, Dunst oder Smog zerstört. In William Delisle Hays fiktivem Bericht The Doom of the Great City. Being the Narrative of a Survivor, Written AD 1942 , 1880 publiziert, erzählt ein Großvater, wie heruntergekommen London war, als sich ein tödlicher Nebel über die Stadt legte und alles, was er zu fassen bekam, im Handstreich auslöschte. J. Drew Greys Erzählung The Mystery of the Shroud beginnt damit, dass in Südengland Kohle und Eisenerz gefunden werden, woraufhin rund um London alle unbebauten Flächen in Beschlag genommen werden (wer mag, kann hier eine populäre Fortsetzung von John Evelyns ökologischer Schrift Fumifugium aus dem 17. Jahrhundert erkennen). 30Der Nebel, der sich überall dort breitmacht, wo früher Bäume standen, dient einer anarchistisch-sozialistischen Sekte als Deckmantel, in dessen Schutz sie führende Politiker entführt und ermordet, um auf diese Weise sozialistischem Gedankengut zur Macht zu verhelfen. Die Moral von der Geschicht’: Nebel ist ein Vorbote des Kommunismus.
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