Marx sah als Lösung für politische Konflikte den revolutionären Triumph der Arbeiterklasse und die technologische Überwindung von Mängeln. Dieser Ansatz war aus Sicht des 20. Jahrhunderts allzu optimistisch: Veränderungen durch Revolutionen haben häufig dazu geführt, dass eine Tyrannei durch eine andere ersetzt wurde. Aus diesem Blickwinkel sind der Marxismus und andere Ideologien lediglich die jüngsten Formen eines unrealistischen utopischen Moralismus.
Hegel zufolge sind politische Ideen Abstraktionen aus dem politischen Leben einer Gesellschaft, eines Staates, einer Kultur oder einer politischen Bewegung. Um diese Ideen zu verstehen, muss man ihre Geschichte und Entwicklung untersuchen. Dabei geht es immer um die Frage, wie wir dahin gelangt sind, wo wir heute stehen. Schlechterdings unmöglich ist es, einen Blick in die Zukunft zu werfen, um zu erkennen, wohin die Entwicklung führt.
In der römischen Mythologie galt die Eule der Minerva als Symbol der Weisheit. Hegel erklärte, die Eule fliege erst in der Abenddämmerung. Damit meinte er, dass wir die Dinge nur im Nachhinein verstehen können. So warnte Hegel davor, zu optimistisch in die Zukunft zu blicken. Und er warnte davor zu glauben, der moderne Staat markiere das Ende der Geschichte – obwohl er dies selbst behauptet hatte. Es ist leicht, unser Zeitalter als das fortschrittlichste und rationalste überhaupt zu sehen; schließlich glauben wir an die Demokratie, die Menschenrechte, freie Märkte und konstitutionelle Regierungen. Dieses Buch zeigt, dass das keinesfalls einfache Vorstellungen sind und dass sie nicht von allen Gesellschaften und Völkern geteilt werden.
In den letzten 80 Jahren sind neue Nationalstaaten entstanden als Ergebnis des schwindenden Imperialismus und der Entkolonisierung. Bundesstaaten wie Jugoslawien und die Tschechoslowakei sind zerbrochen, genau wie die ehemalige UdSSR. Der Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit ist stark, schaut man nach Quebec, Katalonien, Kurdistan oder Kaschmir. Völker ringen darum, während manche Staaten komplizierte Bündnisse eingegangen sind. In den letzten drei Jahrzehnten ist so die Europäische Union entstanden, deren politische Integration nach innen wie nach außen immer weiter vorangetrieben wird.
Um die Gegenwart zu begreifen, müssen wir die unterschiedlichen politischen Ideen und Theorien verstehen, die es in unserer Geschichte gegeben hat. Denn aus ihnen hat sich der aktuelle Zustand entwickelt. Gleichzeitig soll uns die Vergangenheit Warnung sein, allzu großes Vertrauen in unsere politischen Werte zu setzen. Immer wieder hat sich gezeigt, dass die Anforderungen, wie das kollektive Leben einer Gemeinschaft zu organisieren und zu regieren ist, sich in einer Weise verändern können, die sich nicht voraussagen lässt. Wenn neue Möglichkeiten der Machtausübung entstehen, entwickeln sich auch neue Vorstellungen in Bezug auf Kontrolle und Verantwortung, so entstehen neue politische Ideen und Theorien. Politik betrifft uns alle. Das heißt: Wir alle sollten uns an den Diskussionen beteiligen. 
»Politik ist eine ernste Angelegenheit. Sie sollte nicht den Politikern überlassen bleiben. «
Charles de Gaulle
POLITISCHES DENKEN IN ALTEN ZEITEN
800 V.CHR.–30 N.CHR.
UM 770 V. CHR.
In China beginnt die Zeit der Frühlings- und Herbstannalen; die »Hundert Schulen des Denkens« entstehen.
600–500 V. CHR.
Konfuzius plädiert für ein Regierungssystem, das auf traditionellen Wertenberuht und von einer Gelehrtenklasse verwaltet wird.
UM 510 V. CHR.
Die Römische Republikwird gegründet.
UM 470–391 V. CHR.
Der chinesische Philosoph Mozi schlägt eine rein meritokratische Klassevon Ministern und Beratern vor, ausgewählt nach Tugend und Befähigung.
600 V. CHR.
Der chinesische General Sunzischreibt seine Abhandlung Die Kunst des Krieges für König Helü von Wu.
594 V. CHR.
Solon schafft eine Verfassung für Athenund ebnet damit den Weg für einen demokratischen Stadtstaat.
476–221 V. CHR.
Zur Zeit der »streitenden Reiche«kämpfen die sieben größten chinesischen Staaten um die Vorherrschaft.
UM 460 V. CHR.
Die Sophisten in Griechenland, darunter Protagoras, meinen, politische Gerechtigkeit beruhe auf menschlichen Wertenund sei nicht naturgegeben.
399 V. CHR.
Sokrates stellt wiederholt die athenische Politik und Gesellschaftinfrage – und wird zum Tode verurteilt.
372–289 V. CHR.
Menzius verbreitet das konfuzianische Gedankengutin China.
335–323 V. CHR.
In seiner Schrift Politik beschreibt Aristoteles verschiedene Staatsformen; die Politie(eine Mischung aus Oligarchie und Demokratie) hält er für die zweckmäßigste.
200 V. CHR.
Die Han-Dynastie erklärt den Konfuzianismus zur offiziellen chinesischen Philosophie.
UM 380–360 V. CHR.
In Der Staat plädiert Platon für die Herrschaft von »Philosophenkönigen«, die so weise sind, dass sie erkennen können, was ein gutes Leben ausmacht.
UM 370–283 V. CHR.
Chanakyas Rat an Chandragupta Maurya trägt zur Gründung des Maurya-Reichesin Indien bei.
300 V. CHR.
In dem Bestreben, China zu vereinigen, werden die autoritären Vorstellungen von Shang Yang und Han Feizi als Lehre des Legalismusübernommen.
54–51 V. CHR.
Cicero schreibt De re publica ( Über das Gemeinwesen ) in Anlehnung an Platons Der Staat . Dabei plädiert er für eine demokratischereRegierungsform.
Die Anfänge des politischen Denkens lassen sich ins alte China und in die griechische Antike zurückverfolgen. In beiden Kulturen gab es Denker, die die Welt infrage stellten und sie auf eine Art analysierten, die wir heute Philosophie nennen. Ab rund 600 v. Chr. rückte die Frage in den Mittelpunkt, wie eine Gesellschaft zu organisieren ist. Zunächst wird sie als Teil der Moralphilosophie oder Ethik betrachtet. Die Philosophen untersuchten, wie eine Gesellschaft strukturiert sein sollte, um nicht nur das Glück und die Sicherheit der Menschen zu garantieren, sondern ihnen ein »gutes Leben« zu ermöglichen.
Politisches Denken in China
Ab rund 770 v. Chr. erlebte China eine Phase des Wohlergehens, die als »Zeit der Frühlings- und Herbstannalen« in die Geschichte einging. Verschiedene Dynastien regierten friedlich über getrennte Staaten. Gelehrsamkeit stand hoch im Kurs; die »Hundert Schulen« der klassischen chinesischen Philosophie entstanden. Der einflussreichste Vertreter war Konfuzius. Er plädierte für die Aufrechterhaltung traditioneller chinesischer Werte in einem Staat, der von einem tugendhaften Herrscher, unterstützt von Beratern, geführt werden sollte.
Diese Idee haben Mozi und Menzius weiterentwickelt, um Korruption und despotischer Herrschaft vorzubeugen. Doch als die zwischenstaatlichen Konflikte zunahmen und im 3. Jahrhundert v. Chr. die Zeit der »streitenden Reiche« anbrach, kämpften die Beteiligten um die Vorherrschaft in einem vereinten China. In dieser Atmosphäre plädierten Denker wie Han Feizi und die legalistische Schule für Disziplin als leitendes Staatsprinzip; der Militärführer Sunzi übertrug Kriegsstrategien auf die Außen- und Innenpolitik. Dieses autoritäre politische Denken brachte dem neuen Reich Stabilität, das später zu einer Form des Konfuzianismus zurückkehrte.
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