Endlich, sie hatten das Gebirge fast durchquert, fanden sie ein ideales Tal. Es erstreckte sich in Ost-West-Richtung und war durch einen Bergzug vor dem kalten Nordwind geschützt. So hatte sich eine üppige Vegetation aus Nadel- und Laubbäumen entwickelt, durchsetzt von grasbewachsenen Lichtungen. Und hier sahen sie sehr viel jagdbares Wild.
Zunächst suchten sie das Tal nach Duftmarken anderer Wölfe ab, fanden aber zu ihrer Beruhigung keine. Vielleicht zogen gelegentlich größere Raubtiere durch dieses Tal, aber außer ihnen schien kein anderes Raubtier es als sein Revier zu beanspruchen.
Ein idealer Platz für sie.
Sobald sie ihre erste Jagd in diesem Tal erfolgreich beendet hatten, suchten sie nach einem geeigneten Schlafplatz und fanden ihn in Form einer kleinen Höhle am Nordhang. Hier würden sie bleiben. Dieses Tal war künftig ihr Revier.
Der Sommer verging und der Herbst begann, langsam das Laub zu färben. Sie hatten sich in den letzten Wochen so gut eingelebt, als wäre dieses Tal schon immer ihr Jagdrevier gewesen. Auch der kleine Welpe war erheblich gewachsen. Aus ihm war durch die reichliche Nahrung in der letzten Zeit ein stattlicher Jungwolf geworden.
Es war später Nachmittag. Sie hatten in der Morgendämmerung ein Reh gerissen, hatten sich danach erst einmal ausgeruht und waren gerade zu ihrer Beute zurückgekehrt, als der Altwolf plötzlich alarmiert den Kopf hob und lauschte. Fremde Wesen drangen in das Tal ein.
Vorsichtig schlichen sich die drei Wölfe an diese Geschöpfe heran und staunten. Diese Geschöpfe liefen auf nur zwei Beinen umher, machten viele Geräusche und sie sahen, dass diese Wesen Feuer anzünden konnten.
Auch die beiden Altwölfe hatten bisher noch nie Menschen gesehen, doch das Feuer nötigte ihnen Respekt vor diesen Wesen ab. Sie hatten schließlich selbst genügend schlechte Erfahrungen mit Feuer gemacht. Sie beobachteten die Neuankömmlinge deshalb noch eine Weile weiter. Aber als sie bemerkten, dass diese in eine große Höhle in einiger Entfernung von ihrem eigenen Bau einzogen, kehrten auch sie wieder zu ihrer Jagdbeute zurück.
In der nächsten Zeit gewöhnten die beiden Altwölfe sich an, in weiter entfernt liegenden Teilen des Tals zu jagen. Sie entdeckten bald, dass auch diese fremden Wesen jagten, und gingen ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg. Immerhin war das Tal groß genug.
Der Jungwolf dagegen war, wie alle noch sehr jungen Wölfe, überaus neugierig. Er begann, wann immer er konnte, diesen Wesen zu folgen und sie zu beobachten, ohne dass diese etwas von seiner Anwesenheit merkten.
Kaars erste Begegnungen mit den Wölfen
Zwei Tage, nachdem sie sich in der Höhle eingerichtet hatten, gingen Kaar, En und Raf, wie abgesprochen, auf die Jagd.
Die Frauen und die anderen Männer erkundeten die nähere Umgebung der Höhle, um dort nach essbaren Pflanzen und Früchten zu suchen und Kleinwild zu jagen. Sie dagegen folgten dem Flüsschen talaufwärts in Richtung auf die westlichen Berge zu, weil sie sich den dortigen dichten Bergwald anzusehen und größeres Wild erlegen wollten.
Zu ihrer Freude fanden sie heraus, dass auch der Bergwald nicht durchgehend dicht mit Bäumen bestanden, sondern auch von zahlreichen grasbedeckten Lichtungen durchsetzt war, auf denen Hirsche und Rehe weideten. Als sie weiter hinauf stiegen, sahen sie, dass der Wald dort in eine Gebirgslandschaft mit flachen Hochtälern und einer steppenartigen Vegetation überging. Und dort bemerkten sie weiteres Wild: Riesenhirsche, Wildpferde, Rentiere und Wisente, die diese letzten Herbsttage nutzten, um sich hier vor Beginn des Winters ausreichende Fettreserven anzufressen. Ganz in ihrer Nähe graste eine Gruppe Riesenhirsche.
„Hier oben gibt es, genau wie im Tal, genügend Wild. Wir werden in diesem Winter nicht hungern müssen“, meinte Kaar zufrieden zu seinen beiden Begleitern, „lasst uns einen oder zwei dieser Riesenhirsche erlegen.“
Das steppenartige Gelände bot genügend Deckung in Form von kleinen Büschen und Sträuchern und so konnten sie sich an eine Gruppe von fünf dieser Hirsche heranschleichen. Sobald sie in Reichweite ihrer Wurfspeere waren, brachen sie aus ihrer Deckung und schleuderten die Speere.
En und Raf hatten gemeinsam auf einen Hirsch gezielt und Kaar auf einen der anderen. Alle drei Speere trafen.
Kaars Speer drang dem Hirsch zwar tief in die Brust, verletzte ihn auch schwer, aber nicht sofort tödlich. Der Hirsch floh bergab in den Wald. Dagegen war der andere Hirsch von Ens und Rafs Speeren gleichzeitig getroffen worden und sofort tot zu Boden gestürzt.
„Schafft ihr es, diesen Hirsch in die Höhle zu tragen?“, fragte Kaar die beiden anderen.
„Was für eine Frage. Natürlich schaffen wir das, “ antwortete ihm Raf. „Was hast du denn vor?“
„Ich werde meinem Hirsch folgen. Er ist schwer verletzt und wird den Speer in seiner Seite nicht lange überleben. Vielleicht gelingt es mir doch noch, ihn zu erlegen.“
Er machte sich auf den Weg. Der Hirsch war panisch bergab geflohen und hatte eine deutlich sichtbare Blutspur hinterlassen, der Kaar mühelos folgen konnte. Er war bereits eine ganze Weile unterwegs und ihre Höhle konnte eigentlich nicht mehr allzu weit entfernt sein, als er den Hirsch endlich sah. Von der schnellen Flucht und dem Blutverlust geschwächt, stand er zwischen den Bäumen. Sein gewaltiges Geweih behinderte ihn jetzt an einer weiteren Flucht.
Als Kaar näher kam, sah er zu seiner Überraschung drei Wölfe, die um den Hirsch herum schlichen und ihn belauerten. Es waren ein erwachsenes Wolfspaar und ein fast ausgewachsener Jungwolf, wohl der letzte Überlebende des diesjährigen Wurfes. Noch wagten die Wölfe es nicht, den Hirsch anzuspringen. Sie warteten darauf, dass er zusammenbrach. Dann würden sie sich auf ihn stürzen und ihm den Garaus machen.
Als Kaar sich näherte, wichen die Wölfe knurrend ins Unterholz zurück. Kaar beachtete sie nicht weiter. Zwei erwachsene Wölfe und ein Jungwolf stellten keine große Gefahr für ihn dar. Er war mit einem Messer, mehreren Wurfspeeren und einer Lanze bewaffnet und konnte es mit zwei ausgewachsenen Wölfen durchaus aufnehmen. Zusätzlich trug er ja auch noch seine Steinaxt im Gürtel.
So näherte er sich dem erschöpft und apathisch dastehenden Hirsch von der Seite und gab ihm mit einem Lanzenstich in die Halsschlagader den Gnadenstoß. Als der Hirsch zu Boden stürzte, überlegte Kaar sein weiteres Vorgehen. Ihre Höhle konnte zwar nicht mehr weit entfernt sein, aber wenn er hinging, um einige der Anderen zu holen, dann würden die Wölfe über den Hirsch herfallen. Sie konnten zwar nicht alles Fleisch fressen, aber das Fell wäre ruiniert. Er hatte die Möglichkeit, sie mit seinen Wurfspeeren zu töten, zumindest einen oder zwei von ihnen und die anderen zu verjagen. Aber aus irgendeinem Grund wollte er das nicht. Er kam nicht einmal auf den Gedanken.
Also schlug er den Hirsch aus der Decke und schnitt so viel von dem besten Fleisch heraus, wie er tragen konnte. Danach trennte das Geweih ab. Daraus ließen sich viele nützliche Geräte, wie zum Beispiel Schaufeln, herstellen. Von der frischen rohen Leber aß er genüsslich an Ort und Stelle so viel, wie in seinen Magen hinein passte.
Die beiden erwachsenen Wölfe hatten sich tiefer in die Deckung von Büschen und niedrigem Unterholz zurückgezogen, beobachteten ihn von dort aus und knurrten leise. Der Jungwolf aber war, angezogen vom Blutgeruch, fast auf dem Bauch kriechend näher gekommen, hockte jetzt keine zehn Schritte von Kaar entfernt unter einem Busch und sah ihn unverwandt an.
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