Karl Reiche
Fünfunddreißigtausend Jahre vor unserer Zeit
oder
Wie der Mensch den Wolf zähmte.
Buch 1
Erste Freundschaft mit den Wölfen
Für Emma und Greta
Vorwort:
Vorspann: Die Steinzeit
Die Menschen in der jüngeren Altsteinzeit.
Der Wolfsbau
Der Aufbruch
Der Luchs
Am großen Fluss
Die erste Beute
Das Tal
Kaars erste Begegnungen mit den Wölfen
Kaar findet zwei Gefährtinnen.
Der Jungwolf
Das Zusammenleben mit den Alten
Neue Jagdmethoden auf Schneeschuhen und Gleitbrettern
Die Mammutjagd
Der erste Winter
Sommerjagd
Die Jungen der Wölfe
Der Höhlenbär
Nachwort: Die Menschen
Moderner Mensch und Neandertaler im Vergleich
Der Neandertaler
Der moderne Mensch
Vorwort: Wie der Mensch auf den Hund kam oder die Zähmung des Wolfs.
In der Wissenschaft ist nicht genau geklärt, wann der Mensch den Wolf domestiziert hat und wie das genau vonstattengegangen ist. Fest stehen nur zwei Dinge:
1. Bereits Jahrtausende, bevor er irgendein anderes Tier an sich gewöhnte, hat der Mensch den Wolf gezähmt. Wissenschaftler schätzen, dass das vor etwa 30.000 bis 100.000 Jahren geschah, zu unterschiedlichen Zeiten also und wahrscheinlich auch an mehreren unterschiedlichen Orten.
2. Als die letzte Eiszeit zu Ende ging, lebte der Hund bereits mit dem Menschen zusammen. Dass der Hund beim damaligen Menschen sehr hoch angesehen war, dafür spricht der Umstand, dass manchmal Mensch und Hund gemeinsam begraben wurden. Es muss also intensive Freundschaften zwischen Mensch und Hund gegeben haben. Das älteste dieser gefundenen Gräber ist mehr als 14.000 Jahre alt.
Wie das geschehen ist, wie aus dem Wolf ein Hund wurde, darüber gibt es unterschiedliche Theorien. Die Beliebteste ist, dass eines Tages ein Steinzeitjäger einen Welpen aus einem Wolfsbau nahm und ihn zu seiner Frau brachte, die diesen dann wie ein eigenes Kind an ihrer Brust säugte. Aber warum sollte er das eigentlich getan haben, ohne ersichtlichen Grund oder eine Vorgeschichte und ohne irgendeine erkennbare Absicht? Nur aus einer Laune heraus hat er das wohl nicht getan.
Eine andere Theorie geht davon aus, dass die Menschen in der damaligen Zeit über sehr effiziente Jagdmethoden und Jagdwaffen verfügten und deshalb oft mehr Beute machten, als sie selbst verbrauchen konnten. Diese Theorie nimmt an, dass einige schwächere Wölfe die Nähe der Menschen, beziehungsweise ihrer Abfallhaufen, suchten und von den Resten der menschlichen Beute lebten. Sie gewöhnten sich auf diese Weise an die Nähe der Menschen und domestizierten sich sozusagen selbst.
Ich gehe auch davon aus, dass die Jagdmethoden und Jagderfolge der Menschen eine große Rolle bei der Domestizierung des Wolfs gespielt haben. Die ersten Kontakte könnten so zustande gekommen sein. Ich tue mich aber schwer mit der Vorstellung, dass einige Wölfe zu ersten Kulturfolgern und reinen Aasfressern geworden waren. Ich glaube vielmehr, dass die Domestizierung des Wolfes durch ein gegenseitiges Geben und Nehmen stattgefunden hat, dass also auch der Wolf seine Fähigkeiten in diese Gemeinschaft zu beiderseitigem Nutzen einbrachte.
Die Menschen in dem fraglichen Zeitraum, besonders in der jüngeren Altsteinzeit, hatten, wie schon gesagt, sehr effiziente Jagdwaffen entwickelt, mit denen sie jagdbares Wild schnell und sicher erlegen konnten. Sie verfügten aber nicht über die gleichen Sinne und körperlichen Fähigkeiten wie die Wölfe, die Wild leicht aufspüren und verfolgen konnten. Sie konnten weder so gut riechen noch so gut hören wie die Wölfe und so schnell rennen konnten sie natürlich auch nicht. Dafür hatten sie aber eine weitere Eigenschaft, die sie in eine Kooperation mit den Wölfen einbringen konnten: Sie konnten vorausschauend planen.
Das heißt, sie müssen gelernt haben - anders ist ihr Überleben in der damaligen Eiszeit mit ihren langen Wintern gar nicht denkbar - für die kalte Jahreszeit Vorräte anzulegen, um von diesen zu leben, wenn Eis und Schnee eine erfolgreiche Jagd erschwerten oder gar ganz unmöglich machten.
Eine Eigenschaft, die den Wölfen völlig abging.
Die Menschen hatten also sehr gute Jagdwaffen entwickelt und gelernt, durch das Anlegen von Vorräten für den Winter vorzusorgen. Die Wölfe dagegen verfügten über genau die Sinne (Geruch und Gehör) und körperlichen Eigenschaften (schnelles Rennen), die bei dem Menschen nicht so gut ausgeprägt waren. Dafür aber bestanden ihre Jagdwaffen nur aus ihren Zähnen, mit denen sie immer auf Körperkontakt zu ihrer Beute gehen mussten, wenn sie diese töten wollten. Bei wehrhaften Beutetieren, die mit Hauern, Hörnern oder Klauen ihr Leben verteidigen konnten, war das für die Wölfe eine gefährliche Angelegenheit und dürfte, damals wie heute, häufig zu schweren Verletzungen geführt haben.
Die Sozialordnungen beider, sowohl die der Menschen als auch die der Wölfe, waren einander in gewisser Weise ähnlich. Auch die Wölfe lebten und jagten in Rudeln.
Ein Wolfsrudel bestand und besteht auch heute noch, in freier Wildbahn, meistens aus dem Alphapaar, also dem Leitwolf und seiner Wölfin und den rangniederen Wölfen. Diese sind zum einen erwachsene Jungtiere, die häufig aus den Würfen der letzten Jahre stammen, und zum anderen die neuen Welpen des Jahres. Erst im Alter von zwei bis drei Jahren, wenn sie geschlechtsreif werden, verlassen viele junge Wölfe ihr Rudel, um sich einen Partner zu suchen, und mit dem ein neues Rudel zu gründen.
Was lag also näher, als dass sich eine Gruppe Menschen und ein Rudel Wölfe zusammentaten, um gemeinsam erfolgreicher jagen zu können. Für eine menschliche Gesellschaft, die fast ausschließlich von der Jagd lebte, muss die Zusammenarbeit mit einem Rudel Wölfe enorme Vorteile gebracht haben.
Dass dieser Vorgang nicht von heute auf morgen geschah, das liegt ebenfalls auf der Hand. Die Zusammenarbeit wurde sicherlich nicht durch einen augenblicklichen Beschluss herbeigeführt, sondern kann nur ein langsamer und langwieriger Prozess der allmählichen Annäherung gewesen sein. Mensch und Wolf haben sich sicherlich zunächst aus vorsichtiger Distanz beobachtet, dann zufällig gemeinsame Jagderfolge gehabt und diese dann irgendwann einmal bewusst wiederholt. Wahrscheinlich ging dafür die Initiative sogar vom Menschen aus. Bis beide Seiten so viel Vertrauen zueinander gefasst hatten, dass sie die jeweilige Nähe des Anderen duldeten, müssen Jahre der Vertrauensbildung vorangegangen sein. Wenn die eiszeitlichen Wölfe sich nicht viel anders verhalten haben, als die Wölfe heute, dann mieden sie meistens die Nähe des Menschen, weil sie ihn, genau wie sich selbst, als Raubtier einschätzten. Auf der anderen Seite war die durchschnittliche Lebenserwartung eines Wolfes relativ kurz (sie lag und liegt auch heute bei 10 bis 12 Jahren). Sie ist also wesentlich kürzer als die des Menschen, so dass dieser Vorgang sich in nur wenigen Jahren abgespielt haben könnte.
Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass zusätzlich ein dramatisches und einschneidendes Ereignis die beiden enger zusammengeführt hat.
Auch die erste Zeit des Zusammenlebens dürfte nicht einfach gewesen sein. Damals wie heute kannten die Menschen den Wolf als gefährliches Raubtier und hatten, wie vor jedem großen Raubtier, Angst vor ihm. Wenn man zudem an die vielen Mythen vom „bösen Wolf“ denkt, die selbst in unserer Zeit noch lebendig sind, dann kann man sich vorstellen, dass die eiszeitlichen Jäger, besonders aber ihre Familien, am Anfang gegenüber dem neuen Jagdgefährten skeptisch waren.
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