Ian aber nörgelte: „Diese Höhle hat drei Eingänge und einer liegt genau im Norden. Durch diesen Eingang wird im Winter der Sturm in diese Höhle blasen. Bestimmt zieht es dann stark und wir werden frieren.“
Kaar sah ihn direkt an. Er wusste, dass Ian ihm gerne die Führerschaft streitig gemacht hätte, und antwortete deshalb diplomatisch, um keinen unnötigen Streit aufkommen zu lassen: „Ian, danke für diesen Hinweis. Du erinnerst dich sicher an Agers Bericht, dass sie den Eingang ihrer Höhle im Winter mit Fellen zuhängen. Wir werden es hier genauso machen. Der Nordeingang ist sehr schmal. Wir können ihn sicherlich im Winter verschließen, indem wir große Steine in dem Spalt aufeinander stapeln. Wenn wir dann noch zusätzlich Felle innen davor hängen, kann der Nordwind nicht mehr durch diese Höhle blasen.“ Alle nickten zustimmend und Ian gab sich geschlagen.
Kaar kletterte mit En zur Kuppe des Berges hinauf und war zunächst von dem Anblick, der sich ihm bot, sprachlos. Von ihrer Position aus konnten sie weit in beide Richtungen des Tals sehen. Es erstreckte sich, wie sie schon vom Berghang aus gesehen hatten, fast in Ost-West Richtung und war mit kleinen Wäldern und Wiesen durchsetzt. Überall sahen sie friedlich grasende Tierherden. „Von hier oben können wir immer sehen, wo sich gerade welches Wild aufhält. Dieser Berg mit seiner Höhle ist für uns ein idealer Wohnort!“, rief er und schlug En begeistert auf die Schulter. „Wir sehen, wohin wir zur Jagd aufbrechen müssen, um erfolgreich zu sein.“
Sie holten ihre Sachen aus dem Lager am See in die Höhle und planten ihr weiteres Vorgehen. „Lia und Eta, ihr kennt die essbaren Pflanzen in dieser Gegend besser als wir“, fasste Kaar ihre Überlegungen zusammen. „Bitte geht morgen mit den anderen Frauen ins Tal und schaut euch um, was hier so alles wächst. Die anderen werden derweil die Höhle wohnlich einrichten. Wenn alles fertig ist, müssen wir jagen gehen und Vorräte für den Winter anlegen.“
Lia und Eta, die beiden zuletzt zur Gruppe gestoßenen Frauen von den Leuten am großen Strom, machten sich mit Mona am nächsten Morgen auf den Weg. Derweil richteten Aja und Ina mit den Männern die Höhle wohnlich her. Schlaf- und Feuerstellen wurden angelegt und der hintere kleine Raum gereinigt. Hier bestimmte Kaar eine Ecke als künftige Räucherkammer, in der sie Fleisch räuchern und trocknen und damit haltbar machen wollten. Der Rauch der Feuer aus der Haupthöhle und der Räucherkammer würde durch den Gang und über die Eingänge abziehen.
Am Abend kamen Lia, Eta und Mona begeistert zurück.
„Im Tal wächst alles, was wir brauchen, um hier leben zu können. Jetzt im Herbst gibt es viele reife Früchte, die wir ernten und trocknen können. Dazu wachsen hier auch Einkorn- und Zweikornweizen, wilder Hafer und wilde Gerste, Haselnüsse und sehr viele andere essbare Pflanzen. Und die Laubwälder im Tal sind voller Pilze“, berichteten alle drei ziemlich aufgeregt und durcheinander redend.
„Lia und Eta, wisst ihr denn, welche von den Pilzen essbar sind und welche nicht?“, fragte Kaar die beiden.
„Ja natürlich. Die Landschaft hier ist nicht anders als bei uns am großen Fluss.“
„Gut, dann fangt an, alles, was essbar ist, zu sammeln und zu trocknen. Ich werde morgen mit En und Raf dem kleinen Fluss nach Westen folgen, um höher in die Berge hinauf zu gehen und die dortigen Jagdmöglichkeiten zu erkunden.“
Ian und Petr wollten das Tal nach Osten durchstreifen, um dort auf die Jagd zu gehen. Bor und Sig wurden von der Gruppe dazu ausersehen, den Frauen zu helfen. Die beiden nörgelten ein wenig herum, aber Kaar erklärte ihnen sehr bestimmt: „Die Frauen sollten nicht gänzlich allein sein, wenn sie Pflanzen sammeln gehen. Wir kennen die Tiere dieses Tales noch nicht, vielleicht brauchen sie euren Schutz. Lasst uns alle den Tag über ordentlich anpacken, dann haben wir heute Abend einen guten Grund, um zu feiern.“
Auf der Terrasse vor dem Höhleneingang wurde am Abend ein großes Feuer angezündet, auf dem sie ihre letzten Vorräte brieten und zum rhythmischen Klatschen ihrer Hände alle um das Feuer herum tanzten. Was für ein Glück, das sie so schnell eine Unterkunft gefunden hatten, um den kommenden kalten Winter zu überstehen. Es war zwar noch viel zu tun: Sie mussten genügend Vorräte anlegen, die Frauen Früchte, Pflanzen, Wurzeln und Pilze sammeln und trocknen und die Männer jagen gehen. Aber das war nur viel Arbeit. Wenn alles so lief, wie sie es planten, dann konnte der Winter kommen und würde ihnen nichts anhaben können.
Im Laufe der nächsten Monde und Jahre fanden sie noch mehrere andere Höhlen in diesem Tal, aber sie entschieden sich, in ihrer wohnen zu bleiben.
Der kleine Rüde war an ihnen hochgesprungen, hatte ihre Schnauzen geleckt und vor Freude laut gefiept und gewinselt. Zur Begrüßung hatte der Rüde für ihn eine frische, wieder etwas vorverdaute Rehleber hervor gewürgt.
Trotz der Freude über das glückliche Zusammentreffen und die Vereinigung ihrer kleinen Wolfsfamilie zogen sie in gedrückter Stimmung weiter, immer tiefer in das Gebirge hinein. Die beiden Altwölfe trauerten um den Verlust der kleinen Wölfin und auch der kleine Rüde vermisste seine Schwester sehr. Ihr Rudel bestand jetzt nur noch aus drei Wölfen. Wenn die beiden Altwölfe jetzt auf die Jagd gingen, nahmen sie den Welpen immer mit. Er war zwar eigentlich noch zu jung, um auf die Jagd mitgenommen zu werden. Aber das Risiko, ihn allein zu lassen, erschien ihnen zu groß.
Der Welpe genoss das Jagen. Die Wölfin behielt ihn immer an ihrer Seite, wenn sie Wild auf den Altrüden zu hetzte, und so lernte der kleine Rüde schon früh die verschiedenen Jagdmethoden der Wölfe kennen. Er beobachtete, wie sie sich an Wild heranschlichen, wie der Altrüde Wild tötete, wie sie in Notzeiten Mäuse und manchmal auch Kaninchen ausgruben und wie sie Wild immer im Wechsel müde hetzten.
Solange er klein war, überließen ihm die Altwölfe immer den ersten Teil der Beute. Er durfte zuerst fressen und wuchs schnell zu einem kleinen Jungwolf heran. Nachdem er aber das erste Mal ein Kaninchen selbst gefangen und getötet hatte, musste er schmerzlich erfahren, dass größer und erwachsener zu werden nicht immer mit Annehmlichkeiten verbunden war.
Eines Nachmittags hatten sie ein Reh gerissen und der junge Rüde wollte sich, wie bisher immer, als Erster ans Fressen machen und sich seine Lieblingsspeise, die Leber, holen.
Zu seiner Überraschung knurrte der Altrüde ihn an, stieß ihn beiseite und fraß selbst als Erster. Die Wölfin ignorierte ebenfalls seinen flehenden Blick und ließ ihn erst dann an die Beute, nachdem sie ebenfalls gefressen hatte.
Verunsichert und ängstlich zog er sich etwas zurück, legte den Kopf auf seine Vorderpfoten, beobachtete die beiden Altwölfe und wartete das weitere Geschehen ab.
Die beiden Altwölfe fraßen vom Reh und erlaubten ihm erst, nachdem sie satt waren, ebenfalls seinen Hunger zu stillen.
Als sich dieses Verhalten mehrere Male wiederholt hatte, begann er zu verstehen: Mit dem Beginn des Großwerdens war er in Zukunft der Rangordnung der Wölfe unterworfen. Entsprechend dieser Rangordnung nahm er ab jetzt den niedrigsten Platz in ihrem Rudel ein und wurde von seinen Eltern auch so behandelt. Größer und erwachsener zu werden hatte also auch seine Schattenseiten. Ab jetzt durfte er immer nur als Letzter seinen Hunger stillen.
Sie zogen stetig weiter, aber nirgends fanden sie einen Platz, an dem sie bleiben und den sie als ihr neues Revier beanspruchen konnten. Entweder fanden sie Duftmarken anderer Wolfsrudel oder das Areal wurde von großen Raubtieren wie Höhlenlöwen oder großen Hyänenrudeln beansprucht. Als so kleines Wolfsrudel konnten sie sich mit denen aber nicht anlegen. Fanden sie keine Marken anderer Raubtiere, dann handelte sich um karge Hochtäler, in denen es so gut wie kein Wild gab. So ging der Sommer langsam zu Ende und sie waren von der langen Wanderung erschöpft und ausgemergelt.
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