„Du bist erst fünfzehn. Und ich denke, du bist noch zu jung, um …“, er sucht nach den richtigen Worten, „um einen festen Freund zu haben.“
Verdammt! Woher weiß er von Eriks Kuss? Ich habe niemanden etwas erzählt, alles für mich behalten. Das kann er unmöglich wissen. Hat er mir nachspioniert? Wir sind doch nicht im mittelalterlichen Sizilien! „Ich habe keinen Freund“, sage ich sauer. Es stört mich sehr, dass er sich in meine Angelegenheiten einmischt. Soll das ein verdammtes Verhör werden? Ich bin kein schwaches, bereits aus den Mundwinkeln blutendes Opfer und er nicht Don Corleone.
„Der hier lag im Briefkasten.“ Mit einem bedeutungsvollen Blick streckt er mir einen Brief hin und ich komme mir vor, als hätte man mich bei irgendeinem schrecklichen Verbrechen erwischt. Ungläubig, aber dennoch neugierig hole ich ein kariertes, verknicktes Blatt aus dem Umschlag hervor. Darauf steht: „Liebe Becca, ich finde dich total süß und hätte Lust dich kennen zu lernen. Ich würde mich sehr freuen, dich einmal zu treffen. Hättest du Lust und Zeit? Stefan.“ Ich überlege fieberhaft und dann fällt mir plötzlich ein, um wen es sich handelt. Stefan: klein, blass und ungelenk. Viele Pickel im Gesicht. Habe ich ein paar Mal im Bus gesehen. Spinnt der? Was fällt dem ein, hier aufzukreuzen? Was fällt meinem Vater ein, meine Post zu lesen? Was fällt ihm ein, zu glauben, er könnte sich in mein Leben einmischen? Sind denn alle verrückt?
Ich stoße die Luft aus. Mir ist nicht klar gewesen, dass ich den Atem angehalten habe. „Ich habe keinen Freund!“, sage ich anklagend und wütend. Gleichzeitig bin ich aber auch enttäuscht. Was hätte ich dafür gegeben, wenn der Brief von Erik gewesen wäre. Aber für Mister Supertennis bin ich natürlich unsichtbar.
„Dann ist es ja gut“, raunt Papa. Es ist überflüssig, noch weiter zu sprechen. Wir stehen beide bockig auf und verlassen ohne ein weiteres Wort die Küche.
_______________________________
Die Sonne scheint und schickt uns warme, angenehme Strahlen nach unten. Ein leichter Wind streicht über die Maisfelder und kleine, bauschige Wolken hängen wie angepinnt im Himmel. Mein Papa und ich joggen die 45-Minuten-Runde um die Felder Richtung Schwabmünchen. Ich möchte meine Kondition steigern, in ein paar Wochen sind die Sprintmeisterschaften. Papa hat sich als Laufpartner regelrecht aufgedrängt. Na gut, was soll’ s. Beim Laufen kann er zumindest nicht reden.
„Hallo, was dagegen, wenn ich mitlaufe?“ Erik erreicht uns an der Abzweigung eines Feldweges, genau an der Stelle zum Wasserschutzgebiet.
Ich drehe mich um und unterdrücke ein lautes Stöhnen.
Mein Vater bleibt abrupt stehen. „Ah, Erik! Was für ein Zufall, dass du auch hier entlang joggst. Natürlich kannst du mit uns laufen, wir haben aber noch acht bis zehn Kilometer vor uns.“
„Schön, dann laufe ich gern mit!“
Erik sieht mir direkt in die Augen. Schlagartig fühle ich mich seltsam, versuche aber neutral und unverfänglich zu schauen. Super! Klasse! Auf den habe ich ja voll Lust! Kann er nicht woanders joggen? Auf dem Mond oder vielleicht gleich besser auf dem Mars! Außerirdische, die ihn hochbeamen und als Arbeitssklaven auf ihr Raumschiff entführen, wären mir alternativ auch recht …
Wir laufen los. Rechts ich, in der Mitte mein Vater und links Erik. Immer wieder blickt er kurz zu mir herüber. Ich spüre seinen Blick auf mir. Es fällt mir unglaublich schwer, ihn nicht anzusehen. Mein Puls ist gleichmäßig, aber ich habe das Gefühl, alle meine inneren Organe befinden sich im Schleudergang einer Waschmaschine. Unsere Joggingstrecke, sie kommt mir heute viel länger vor als sonst. Sie muss sich durch irgendeine kosmische Strahlung verdoppelt haben! Wir laufen weiter, und jetzt sieht Erik mich wieder an. Er lächelt. Ich werde nicht schlau aus ihm. Bei unserer ersten Begegnung war er total unfreundlich, dann haben wir ein Jahr kaum miteinander geredet, dann will er mich küssen, obwohl es noch ein anderes Mädchen gab. Der ist doch komplett verrückt! Ich nicke ihm brummig zu. Danach traue ich mich nicht mehr, in seine Richtung zu sehen, bis wir wieder zu Hause sind.
„Hätte nicht gedacht, dass du so gut mithältst, Erik“ bemerkt Papa. „Man merkt, dass du viel Tennis spielst.“
Erik gibt meinem Papa lässig die Hand – sie ist sonnengebräunt, was unverschämt sexy aussieht – und verabschiedet sich freundlich.
„Wenn du magst, kannst du ja wieder mit uns laufen.“
„Können wir sehr gern wiederholen“, antwortet Erik mit einem langen Blick auf mich. Dass Papa überhaupt nichts checkt! Der hat doch Tomaten auf den Augen. Mindestens auf jedem Auge zwei …
Ich sage nichts, drehe mich ruckartig um und sperre die Haustür auf. Mir ist komisch, so als hätte ich hundert Umdrehungen auf einem Bürostuhl hinter mir. Von mir aus soll er doch um die halbe Welt joggen! Oder nach Timbuktu laufen. Dort, wo der Pfeffer wächst, würden sie ihn bestimmt auch nehmen.
_______________________________
Gott sei Dank ist heute Freitag! Ich liebe Freitage! Zwei freie Tage bis Montag, herrlich! Im Fernsehen kommt dauernd Politik. Das geht schon seit Monaten so. Es geht um den Einigungsvertrag zwischen uns, also der Bundesrepublik Deutschland, und diesen anderen Deutschen, denen aus der DDR. Ich finde es krass, dass die alle 100 DM geschenkt bekommen haben. So viel Geld. Und seltsame Klamotten haben die auch an, sehen irgendwie altmodisch aus. Aber alle Nachbarn sind froh, dass die Mauer weg ist, also beschließe ich auch froh zu sein.
„Telefon, Becca“, ruft meine Mutter und steckt ihren Kopf in mein Zimmer. Ihre halblangen Locken leuchten in vielen unterschiedlichen Rottönen, als sich die Nachmittagssonne einen Weg durchs Fenster bahnt.
Wer will denn jetzt noch was von mir? Es ist gleich sieben, und ich stehe mit meiner Schwimmtasche im Gang und warte auf Papa. „Hallo?“, frage ich in den Hörer unseres neuen bordeauxfarbenen Tastentelefons, auf das Mama so stolz ist.
„Hallo, ich bin’s, Erik.“
Oh nein, nicht der schon wieder! Ich unterdrücke ein innerliches und äußerliches Stöhnen. „Ja, hallo.“
„Hey, ich wollte dich fragen, ob du morgen Abend Lust hast, mit mir auf den Michaelimarkt zu gehen. Wir könnten mit dem Rad hinfahren. Laut Wetterbericht soll es morgen schon lau werden.“ Seine Stimme klingt locker und leicht und einladend. Überhaupt nicht so, als ob ich ihn geschlagen hätte.
Der hat Nerven!
„Becca, bist du noch dran?“, fragt er und der reine Klang seiner Stimme lässt mich mulmig werden.
OK, Fakt ist: Er ist ein Idiot. Ein Idiot, der mir völlig gleichgültig ist. Ein Idiot, der viele Mädchen küsst. Ein Idiot, der zwei Jahre älter ist als ich. Ein Idiot, der gerade Jugendmeister im Tennis geworden ist. Ein Idiot, der gleich nebenan wohnt. Ein Idiot, der wahnsinnig toll aussieht. Ein Idiot, der mir liebenswerterweise einen Regenschirm angeboten hat. Ein gut gebauter Idiot, der stundenlang für andere Umzugskisten schleppt. Ein extrem cooler Idiot mit warmen, braunen Augen und einer kleinen Narbe auf der Nase, die …
„Ja, äh … das müsste klappen. Um wie viel Uhr?“ Ist das etwa meine Stimme? Oh nein, ich habe gerade zugesagt!
„Super, ich hole dich gegen 18 Uhr ab, wenn es dir recht ist.“
„Ja, 18 Uhr ist super. Ist meine Lieblingsuhrzeit.“
„Dann bis morgen“, sagt er souverän und legt auf. Funken zünden in meinem Unterbauch.
Ich fasse mir an die Stirn. Wie bescheuert! Lieblingsuhrzeit! Was rede ich nur für einen hirnverbrannten Stuss? Wie konnte ich nur zusagen?
Papa kommt aus dem kleinen Klo. Seiner Raucherhöhle, der einzige Ort, an dem Mama ihm erlaubt hat, seine Pfeife mit Kirschtabak zu schmauchen, zusammen mit der intensiven Lektüre von Donald Duck-Heften. Er legt mir fürsorglich die Hand auf die Schulter. „Was ist mit dir los? Hast du Fieber? Geht’s dir nicht gut? Sollen wir das Training heute ausfallen lassen?“
Читать дальше