„Der, ist eh schon alt. Der wartet nur darauf, dass man ihn umwirft, so hässlich wie er ist“, erklärt er mir mit einem Augenzwinkern und wir stehen wieder auf. „Dann hat Mama endlich einen Grund, einen neuen zu kaufen.“ Er mustert mich von der Seite und tritt dann etwas näher. „Deine Augen sind gar nicht blau“, beginnt er. „Sie sind blaugrau. Das sieht sehr …“
„Rebecca? Erik? Essen ist fertig. Kommt ihr herunter?“, ruft Isabella plötzlich nach oben.
Erleichtert und nervös gehe ich zur Tür und lege meine Hand auf die Türklinke. Die Anlage ist immer noch an und spielt jetzt „ Wind of Change “ von den Scorpions. Im gleichen Augenblick legt Erik seine Hand auf meine. Sie ist warm und fest und ich habe das Gefühl, sie überträgt unsichtbare Funken in meine Finger und von dort in meinen gesamten Unterbauch, in meine Beine, in meine Zehen, einfach überall hin. Jetzt hat mein Herz vollständig aufgehört zu schlagen. Wieso kann ich nicht einfach cool bleiben? Er ist nur ein siebzehnjähriger Nachbarsjunge und nicht Richard Gere! Gleichzeitig öffnen wir die Tür, unsere Hände trennen sich und der magische Moment ist vorbei.
„Ich gehe vor“, sagt Erik freundlich.
Ich folge ihm unsicher und rieche den herrlichen Duft von gebratenem Fleisch und Nudeln. Eriks Mama muss eine tolle Köchin sein, aber Hunger fühle ich gerade keinen! Im Gegenteil, ich fühle mich, als könnte ich monatelang überhaupt nichts mehr essen. Bedacht nicht zu stolpern, was mir sonst andauernd passiert, gehe ich Stufe für Stufe nach unten. Ich zähle die Stufen, um mein Stolperrisiko zu minimieren. Fünf, sechs, sieben, acht, neun …
Er dreht sich noch einmal um und lässt seinen Blick lange auf mir ruhen. Seine braunen Augen mustern mich, von unten bis oben, mit einer Mischung aus Neugier und irgendetwas Neuem. Etwas, das ich noch nicht kenne. Gott, ich finde ihn total süß, aber das fühlt sich alles so fremd an! Bisher war mir doch jeder Junge zu laut, zu grob und zu doof. Jungs waren bescheuerte Wesen! Sie spuckten beim Fußball eklige, weißschleimige Speichelklumpen auf den Boden, feuerten sich in der Pause leidenschaftlich beim Rülpswettbewerb an und schlugen sich am Rande der Tartanbahn zum Spaß blaue Flecken auf den Oberarm. Jungs waren total dämlich!
Aber bei Erik ist alles anders. Ich finde ihn überhaupt nicht bescheuert. Diese seltsamen Gefühle verwirren mich. Ich sollte Billes Rat befolgen und ihn mir aus dem Kopf schlagen. Alle Mädchen sind verliebt in ihn und ich bin nur ein winziger, hässlicher, flachbrüstiger, sommersprossiger Niemand.
September 1990
Ich sitze im Bus nach Hause und draußen prasselt der Regen nur so ans Fenster. Die Felder wiegen im Wind hin und her. Überall sind große Pfützen entstanden. Wie immer habe ich keinen Schirm dabei und bis nach Hause sind es mindestens zehn Minuten von der Bushaltestelle. Manuel, der bestimmt einen überdimensionalen Schirm gehabt hätte, hat heute Nachmittag Sport. Und dann auch noch das. Direkt zwei Reihen hinter mir sitzt Erik neben Paul. Scheiße.
Ich habe Billes Rat befolgt und bin ihm aus dem Weg gegangen. Ein ganzes Jahr lang! Inzwischen ist die Mauer in Berlin gefallen, was alle Menschen aus der Nachbarschaft dazu gebracht hat, sich in die Arme zu nehmen und vor Freude und Erstaunen zu weinen, und wir sind Fußballweltmeister geworden. Letzteres sehr zum Ärger von Papa, der im Schlafzimmer wütend vor dem kleinen Fernseher dem Kollaps nahe hin und her gesprungen ist, als Italien gegen Argentinien, natürlich unfairerweise, im Elfmeterschießen verlor.
Ein ganzes Jahr habe ich einen Bogen um Erik gemacht. Das war viel schwieriger gewesen als zunächst gedacht. Aber wir hatten zum Glück komplett andere Buszeiten, sein Klassenzimmer lag auf der anderen Seite des Schulgebäudes und wenn Mama und Papa mit den Sonnbergs jeden Mittwoch zum Pizzaessen gingen, hatte ich ‚überhaupt keinen Hunger’ oder ‚ganz schlimmes Kopfweh’. Dieses Schuljahr ist plötzlich alles anders. Mindestens drei Mal die Woche haben wir zur selben Zeit Schulschluss. Das passt mir überhaupt nicht! Ich hatte inständig gehofft, diese neuen Gefühle in mir würden von selbst wieder verschwinden, wenn man sie nur lange genug ignorierte, so wie lästiges Jucken auf der Haut nach einem fiesen Mückenstich. Aber im Gegenteil: Erik war der schlimmste Mückenstich von allen. Es wollte gar nicht aufhören zu jucken, vor allem in meinem Bauch. Jedes Mal, wenn er mich ansah, fühlte ich mich wie eine hässliche Außerirdische mit Produktionsfehler: Wackelkontakt im Sprachmodus, problematische Motorik und Energieverlust im Gehirn!
Der Bus hält endlich an und ich laufe los. Natürlich hat der Regen nicht aufgehört und ich hätte mich genauso gut mit kompletten Klamotten unter die Dusche stellen können. Meine schöne Frisur, voll im Eimer! Eine Stunde mit der Rundbürste föhnen dahin. Plötzlich höre ich ein schnelles Atmen hinter mir und drehe mich um. Es ist Erik. Mist, den wollte ich doch abhängen!
„Warum rennst du denn so? Ich habe doch einen Schirm. Möchtest du nicht mit darunter? Schließlich haben wir denselben Heimweg.“
Oh Hilfe, mein Herz macht einen Sprung. Mist! „Äh, ja danke.“ Mit einem kräftigen Ruck und einem Lächeln zieht Erik mich unter seinen Schirm.
„So ist es schon viel besser.“
Ich versuche ihn nicht anzustarren oder dümmlich zu grinsen, obwohl sein energischer Ruck mich überrumpelt hat. Nein, nein, nein. Ich will ihn nicht gut finden. Gott, ich muss an irgendetwas Negatives denken: Die Erderwärmung, das Ozonloch, der Anstieg des Meeresspiegels, Tschernobyl …
„Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Hast du dich gut eingelebt?“
Die Umweltverschmutzung, Chemiestunden bei Dr. Fehmann, das Aussterben der Wale, Lippenherpes … Sein Lächeln dringt direkt in meinen kribbeligen, nervösen Magen.
„Ja, denke schon.“ Wir stehen immer noch wie angewurzelt da. Der Bus ist inzwischen weggefahren.
„Tja, da sind wir Nachbarn und haben uns bisher kaum unterhalten.“
Erdbeben, Bürgerkrieg, Rosenkohl, Lateinhausaufgaben … „Tja …“
„`Tschuldigung, dass ich bei unserer allerersten Begegnung so schroff war. Die Sache mit der Bohrmaschine. Ich bin manchmal ein ziemlicher Holzklotz.“ Er legt seinen Kopf schief und beugt sich leicht zu mir herunter. Blitzende Funken wirbeln in meinem Unterbauch aneinander und mir ist so schwindlig wie auf einem Boot. Hilfe, kann man auch an Land seekrank werden?
„Ist schon OK.“ Der Regen ist noch heftiger geworden. Warum gehen wir nicht endlich los?
„Es sieht süß aus.“
„Was?“
„Wie du dir auf deine Unterlippe beißt.“ Tue ich das? Ich erröte schlagartig. Jesusmariaundjosef!
Plötzlich sieht er mich streng an. „Warum nimmst du keinen Regenschirm mit, hm?“
„Äh, ich … lasse die immer irgendwo stehen. Im Bus, im Klassenzimmer, in der Straßenbahn, im Schwimmbad, im Zug…“
„Du vergisst andauernd Regenschirme?“, unterbricht er mich jäh und schüttelt stirnrunzelnd den Kopf. Seine Augen sehen mich lange belustigt an.
Oh Mann! Ich rede total doofes Zeug! Mist! Mist! Mist! Warum erzähle ich ihm nicht gleich, dass ich in der 6. Klasse glitzernde Glücksbärchi-Aufkleber gesammelt habe? „Wollen wir losgehen?“, werfe ich ein, um den peinlichen Moment zu überspielen.
Erik wirft einen kritischen Blick in den graunassen Himmel. „Ja, lass uns gehen. Aber wir müssen uns beeilen, es wird gleich noch heftiger regnen.“ Dann nimmt er meine Hand – Hilfe, mein Herz! - und wir laufen los.
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Als ich Erik das nächste Mal sehe, sitzt er genau zwei Plätze von mir entfernt. Das Straßenfest ist ein voller Erfolg. Alle Bänke sind voll besetzt, die Luft ist lauwarm. Eriks Vater steht am Grill und alle haben Salate mitgebracht. Papa hat gegrillte Paprika alla Siciliana gemacht, die großen Anklang finden. Musik dröhnt aus den Boxen: Lambada . Oh nein, wer hat das denn bitte aufgelegt?
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