Ich versuche normal zu atmen und rufe in den Gang: „Mama, haben wir die Bohrmaschine von den Sonnbergs noch?“
„Hat Papa schon zurückgebracht“, ruft Mama aus dem Haus. Unbeholfen zucke ich mit den Schultern. Schade, dass er nur wegen dieser blöden Bohrmaschine hier ist. Billes Worte fallen mir wieder ein: „Erik ist wirklich toll, aber keines der Mädchen konnte ihn auf Dauer halten. Er ist ein Sunnyboy und ich glaube, er hat Beziehungen bisher nie ernst genommen.“
„Diese Karte hier ist für deine Eltern.”
„Oh, dankeschön.” Um Himmels Willen, ist das eine Einladung?
Eine Weile stehen wir schweigend da. Ein schwacher Lufthauch weht vorbei, ein paar Birkenblätter tänzeln im Wind und ich spüre die kühle Brise auf meinen Armen. Endlich durchbricht Erik die Stille und sagt: „Ja, dann.“
Mir fällt überhaupt nichts Intelligentes oder Cooles ein und so sage auch ich: „Ja, dann.“ Als die Haustür wieder zu ist, lehne ich mich mit dem Rücken dagegen und rutsche langsam auf den Boden. Hilfe, was ist nur mit mir los? Ich muss krank sein. Mir ist ganz komisch. Mein Magen, mein Herz, meine Beine …
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Eine Einladung zum Essen bei den Sonnbergs hat mir gerade noch gefehlt!
Eriks Mutter öffnet uns freudestrahlend die Tür. Sie hat braune, schulterlange Haare, ist nicht besonders groß, sonnengebräunt und hat warmherzige Augen. Mama überreicht Eriks Mutter einen kleinen Blumenstrauß. Ganz wild gemixt, alle Farben, typisch Mama eben. Unsere alten Fotoalben aus den 70ern verraten, dass sie ein wilder, langhaariger Blumenhippie war. „Schön, dass ihr kommt, Ingrid. Und danke für die hübschen Blumen! Dort drüben könnt ihr eure Jacken aufhängen.“ Eriks Vater nimmt sie uns freundlich ab, bevor wir selbst tätig werden können.
„Hallo, ich bin Isabella“, sagt eine große, junge Frau Anfang zwanzig mit langen dunklen Locken, „und Eriks Schwester.“ Sie ist mir auf Anhieb sympathisch. Ihre Augen sind stark dunkelbraun geschminkt, was super aussieht, ich mich aber niemals trauen würde.
„Und das ist also eure Rebecca“, fragt Conrad, Eriks Vater, und lächelt mich aufmunternd an.
Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben. Mir ist unwohl und ich lächle gequält zurück. Ausgerechnet die Sonnbergs und meine Eltern, neue beste Freunde!
„ Sí , das ist Becca“, antwortet Papa grinsend.
„Na, da musst du aber mächtig stolz sein, Giovanni. Sie ist ein schönes Mädchen“, erwidert Conrad, der meinen Vater einen halben Kopf überragt. Mir fällt sofort auf, dass Erik seinem Vater sehr ähnlich sieht. Groß, dunkelhaarig, markante Nase und sympathisches Gesicht. Aber er hat auch etwas von den Gesichtszügen seiner Mutter, die Augen vielleicht.
Papa hebt stolz mein Kinn an. „Si, meine Becca … ist hübsch.“
Sind die alle blind? Es gibt mindestens 15 Mädchen in meiner Klasse, die viel, viel hübscher sind als ich! Was würde ich dafür geben, wenn meine Nase kleiner wäre. So wie die von Kristin, klein und niedlich. Meine Nase ist groß und aristokratisch, wie Mama meint. Und meine Wimpern sind hellblond. Ohne Mascara würde man überhaupt nicht sehen, dass ich welche habe! Es ist echt gemein! Da hat man einen rassigen, italienischen Vollblutnamen und sieht aus wie eine unscheinbare, normannische Schwedin. Immerhin, ich liebe die Farbe meiner Haare. In der Sonne glänzen sie golden.
„Die Jungs werden hinter ihr her sein“, bemerkt Conrad mit einem verschwörerischen Augenzwinkern.
„Becca interessiert sich überhaupt nicht für Jungs, sondern nur für die Schule und ihren Sport. Sie ist ein Schatz, mein Schatz“, antwortet Papa trocken. Oh Mann, Papa hör auf damit! Am liebsten möchte ich vor Scham im Boden versinken. Gott, wo ist die spontane Erdspaltenöffnung, die mich verschlingt? Genau jetzt wäre der passende Augenblick!
In diesem Moment taucht Erik auf. In hellblauen Jeans und buntem T-Shirt mit Iron Maiden Aufdruck.
„Ich glaube, unsere Tochter hat einen Verehrer“, fügt meine Mama plötzlich an, „dauernd ruft ein Robert bei uns an.“ Die Augen meines Papas verengen sich zu kleinen Schlitzen und sein Gesichtsausdruck verwandelt sich von freundlich rosa zu grimmig weiß. Hilfe, können wir nicht endlich über etwas Anderes als mich sprechen? Erik sieht mir in die Augen, aber er lächelt nicht.
„Robert ist unser Klassensprecher“, verteidige ich mich und winke ab. Sichtlich erleichtert und in seiner Meinung bestätigt, nickt Papa mir zu. Eriks Augen bleiben ausdruckslos.
„Erik, das Essen ist noch nicht fertig. Möchtest du Rebecca nicht dein Zimmer zeigen?“, fragt Maria, Eriks Mama.
„Klar“, sagt er ruhig und ich folge ihm.
Nur nicht nervös werden. Er ist nur irgendein Nachbarsjunge, beruhige ich mich. Oben angekommen schließt er die Tür und legt eine CD ein. Er hat natürlich CDs, diese kleinen, neuen Musikscheiben. Über 30 Mark kosten die! Ich besitze noch keine einzige! Die Musik läuft an und spielt „ Nothing Else Matters “ von Metallica. Alle sind gerade verrückt nach diesem Lied. Es kommt andauernd im Radio und auch ich mag es sehr. Wir gehen auf den Balkon, aber die Musik ist noch gut zu hören. Die Nachtluft ist angenehm warm und es riecht nach frisch gemähtem Gras. Ich liebe diesen Duft. Wir vermeiden es uns anzusehen und schauen einfach nur auf die Maisfelder vor uns.
„Robert …“, beginnt er.
„Ist nur der Klassensprecher“, falle ich ihm ins Wort. Warum tue ich das? Was geht ihn das schon an? Ich kann reden, mit wem ich will, oder nicht?
„Du magst ihn?“ Jetzt dreht er sich zu mir um. Himmel, er ist einen ganzen Kopf größer als ich. Seine warmen, braunen Augen sehen mich lange an. Seine Wimpern sind dicht. Woher er wohl die kleine Narbe auf der Nase hat? Ich fühle mich seltsamerweise geborgen in seiner Gegenwart, aber mein Herz schlägt zu schnell, ich muss schlucken und mein Mund fühlt sich plötzlich so trocken an, als hätte ich eine Schaufel Sand verschluckt, den grobkörnigen.
„Er ist nett.“
„Aha.“ Er blickt mich eindringlich an. Ich habe das Gefühl, meine Antwort gefällt ihm nicht. Dann sagen wir erst einmal nichts mehr und das ‚neue Gefühl in mir’ wird so groß, dass ich am liebsten auf der Stelle gehen möchte. Gleichzeitig möchte ich aber bleiben. Was ist nur los? Viele Augenblicke stehen wir schweigend da. „Deine Eltern sind nett“, meint er irgendwann.
„Deine auch“, sage ich kurz. „Deine Schwester macht gerade eine Ausbildung?“
„Ja, im Oberjoch. Zur Hotelkauffrau.“
„Ihr versteht euch gut?“
„Ja? Wieso?“
„Ist ein Bauchgefühl. Ich meine die Art und Weise, wie ihr euch vorhin angesehen habt.“
Erik nickt in meine Richtung und ein warmes Strahlen geht von ihm aus. „Wo kommen deine Eltern her?“, fragt er und lehnt lässig mit dem Rücken am Balkongeländer. Ich glaube, er ist mir ein bisschen näher gekommen. Oder bilde ich mir das nur ein?
„Mama kommt aus Augsburg und Papa kommt aus einem kleinen Bergdorf aus Sizilien.“
„Dein Papa hat einen lustigen italienischen Akzent. Er sagt ‚die Auto’ und ‚Aus statt Haus’.“
Ich muss lachen. „Das höre ich schon gar nicht mehr! Papa sagt auch ‚die Mond’ und ‚Ich habe fertig’. Er hat schon immer so gesprochen. Na ja, deutsche Sprache, schwere Sprache.“
Erik lacht schallend auf. „Ja, das sagt mein Deutschlehrer auch immer.“ Sein Lachen ist einzigartig schräg und irgendwie ansteckend. Ein Lachen, das man sofort aus dreißig Menschen heraushört, schießt es mir in den Sinn. Mit ihm gemeinsam zu lachen, fühlt sich großartig an.
Ich drehe mich nun auch mit dem Rücken zum Balkongeländer, streife dabei aber einen leeren Blumentopf, der prompt mit einem lauten Scheppern umfällt und zu Bruch geht. Oh nein, wie peinlich! Ich bücke mich, um die Scherben aufzusammeln. Erik hat den gleichen Gedanken und unsere Hände berühren sich kurz. Ein kribbeliges, zischendes Gefühl saust in Lichtgeschwindigkeit durch meinen Bauch. „’Tschuldigung“, nuschele ich nervös.
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