Abschätzig blickt Ann-Kathrin auf mich herab. Sie ist sogar im Sitzen mindestens fünf Zentimeter größer als ich. „Das ist doch kein Problem. Du kommst eben mit und lebst dort, wo er stationiert ist.“
„Aber ich möchte studieren, da kann ich nicht einfach umherreisen. Ich muss lernen und Klausuren schreiben.“
Ihr Blick wird noch abwertender und sie fächert sich mit ihrer Serviette demonstrativ gelangweilt Luft zu.
„Schätzchen, wenn du mit einem Piloten zusammen bist, brauchst du keinen eigenen Beruf. Er verdient genug für euch beide.“
Nun werde ich ungehalten. „Es geht doch nicht ums Geld. Ich möchte einen eigenen Beruf haben. Wofür mache ich denn mein Abitur?“
„Was willst du denn studieren?“, bohrt sie nach.
Eine Frage, mit der mich meine Eltern neuerdings auch immer nerven. „Das weiß ich jetzt noch nicht. Vielleicht Lehramt?“
Ihr Blick bleibt weiterhin herablassend an mir und meinem Kleid hängen. Ihres war natürlich auch schwarz. Plötzlich schlingt Erik beide Arme von hinten um mich. Erleichtert drehe ich meinen Kopf zu ihm. Endlich! Er strahlt mich an und augenblicklich durchflutet Wärme meinen ganzen Körper. Tom setzt sich neben Ann-Kathrin und tätschelt ihr beiläufig die Hand. Sie starrt verbissen nach vorn. Erik fordert mich auf: „Lass uns noch einmal tanzen!“
Als ich aufstehe und seine Hand ergreife, spüre ich ihren eiskalten Blick in meinem Rücken. Ich seufze leise und wünsche mir für einen kurzen Augenblick, Erik hätte den Wehrdienst verweigert, anstatt mit vollen Segeln seine gesamte Zukunft diesem uniformierten Verein zu schenken. Lieber Gott, wird das alles gut gehen? Mit uns?
Juli 1994
„Weißt du, was ich wirklich fantastisch finde?“, fragt Erik und lässt sich schwungvoll auf sein Sofa fallen. Wir sind zur Abwechslung bei seinen Eltern. Es ist schön, hier zu sein. Nach all den Jahren ist es wie ein zweites Zuhause für mich geworden und ich besitze sogar einen eigenen Hausschlüssel.
„Verrate es mir.“
„Dass ich nicht nur eine Freundin habe, die total süß aussieht, sondern eine Freundin, die in wenigen Tagen ihr Abiturzeugnis bekommt.“
„Was?“, kommentiere ich gespielt geschockt, „du hast zwei Frauen?“ Jetzt müssen wir beide laut lachen und ich lasse mich auf seinen Schoß fallen.
„Stell dir vor“, schmunzele ich verschwörerisch, „ich habe einen Freund, der verdammt gut aussieht, und einen, der gerade Jetpilot wird.“
Erik sieht mich nickend mit einem bedeutungsschweren Blick an und grinst schelmisch. „Dann würde ich sagen, passen wir perfekt zusammen.“
„Ja, das könnte sein, wenn du auch so gut bist wie er. Er hat gerade das harte Screening in Phoenix überstanden. Viele sind ausgeschieden. Viele, von denen er gedacht hätte, dass sie es schaffen. Er ist zum ersten Mal geflogen. Zwar noch keinen Jet, aber ein Propellerflugzeug. Er meinte, das war so cool.“
„Das hat er dir erzählt? Was für ein Angeber!“, kontert er und wir müssen lachen.
Auf einmal werde ernst und drehe seinen Kopf zu mir. „Ich liebe dich und ich werde dich immer unterstützen. Aber für mich ist es nicht wichtig, dass du Pilot wirst, du könntest auch etwas anderes machen. Schornsteinfeger, Banker oder Koch. Ich würde alles toll finden!“
„Du bist ganz schön anspruchslos“, neckt er mich.
Ich bin nicht mehr in der Stimmung für Scherze, stehe auf und tigere unruhig durchs Zimmer. „Mit deiner Fliegerei bist du so viel unterwegs und ich bleibe allein zurück. Jetzt waren es zwei Monate Arizona, aber bald bist du wieder weg und ich werde dich wieder vermissen. Ich bin so oft allein. Ich werde mich nie daran gewöhnen.“
„Fliegen ist mir wichtig, aber du bist mir wichtiger. Das musst du mir glauben. Meine Liebe zu dir ist viel stärker als mein Wunsch zu fliegen.“
„Ich will ja nicht, dass du deinen Traum für mich aufgibst. Es ist nur schwer für mich. Du gehst und ich mache mir Sorgen.“
„Dass ich was mit einer anderen anfangen würde?“
„Nein, du Idiot! Dass dir etwas passieren könnte. Jeden Tag stürzen Flugzeuge ab. Warum verstehst du das nicht?“ Jedes Mal, wenn er wieder geht, habe ich Angst um ihn. Genervt davon, dass er meine Sorgen nicht teilt, drehe ich mich zu seinem großen Bücherregal und fange an, wahllos Bücher herauszunehmen und wieder einzusortieren, ohne auf die Titel zu achten.
Erik steht vom Sofa auf, stellt sich hinter mich, drückt seinen Körper sanft an mich und haucht einen Kuss auf meinen Nacken. „Mir kann gar nichts passieren. Ich trage doch immer deinen ‚Glücksbringerbrief’ in der linken Brusttasche von meinem Fliegerkombi.“
„Den Brief, den ich dir zu deinem allerersten Flug geschrieben habe?“
„Ja, genau den. Es ist nur ein Stück Papier mit Worten … deinen Worten. Ich weiß nicht warum, aber er gibt mir Sicherheit.“
Jetzt drehe ich mich zu ihm herum. Mit meinen Fingern berühre ich seinen Nacken.
„Du siehst gut aus in deinem Fliegerkombi“, bemerke ich und denke an das Bild, das ich von seinem ersten Soloflug auf meinem Schreibtisch stehen habe. Es hat den Moment festgehalten, als er die Hand seines Fluglehrers schüttelt und übers ganze Gesicht strahlt.
„Du sähest viel besser darin aus.“ Er überlegt kurz. „Zieh dich aus.“
„Was?“
„Zieh dich aus, Becca!“
„Ist das ein Befehl?“
„Ja, ein klitzekleiner. Und mein Dienstgrad ist höher als deiner. Also, los!“
Bitte! Ich habe gar keinen Dienstgrad, Witzbold! Unschlüssig ziehe ich mich bis auf die Unterwäsche aus und hoffe, dass Eriks Papa nicht ins Zimmer kommt. Er hat ein Talent dafür, in den unmöglichsten Augenblicken im Türrahmen zu stehen.
Erik hält mir einen grauen Ganzkörperanzug mit runden Fliegerpatches hin.
Nach kurzem Zögern schlüpfe ich hinein. Die Ärmel hängen mir weit über die Handgelenke. Ich muss lustig aussehen. Wie ein Kind in einem Riesenoverall.
Erik strahlt mich an. „Das sieht so süß aus! Der Kombi steht dir echt gut. Schade, dass Frauen keine Jets fliegen dürfen. Ich muss ein Foto von dir machen. Das klebe ich an meinen Spind. Die anderen Jungs werden mich beneiden.“ Erik saust davon und kommt mit einer Kamera bewaffnet zurück. Schnell schießt er ein paar Bilder von mir und ich stelle mich schüchtern lächelnd in Pose.
Während Erik die Kamera wegbringt, lasse ich gedankenverloren meine Hand wieder über die Buchrücken gleiten. Plötzlich rutscht ein Buch nach vorne und reißt einige Taschenbücher mit sich. Dazwischen liegt ein Brief.
Er ist nicht von mir. Ich hebe ihn auf. Er ist an Erik adressiert. Auf einmal klopft mein Herz stärker. Eine hässliche Angst lässt meine Hände zittern. Der Poststempel ist von August 1991. Ich drehe den Brief um. Absender: Svea Walzmann aus Lollar. Der Brief ist aus Hessen? Erik war vor drei Jahren zur Ferienarbeit dort. Svea? Wer ist Svea? Mein Magen zieht sich zusammen. Ein Brief von einem anderen Mädchen an meinen Freund? Es muss nichts bedeuten. Rein gar nichts. Vielleicht nur eine Bekannte oder eine Schulfreundin. Aber er hat mir nichts von einer Svea erzählt … Ich sollte den Brief einfach wieder zwischen die Bücher stecken. Mir ist ganz komisch und mir wird heiß. Eine hässliche Hitze überzieht meinen Körper. Ich kann nicht anders. Ich muss ihn öffnen. Ich nehme den Zettel heraus und stecke ihn sofort wieder zurück. Lass das, Becca! Man liest keine fremde Post. Erik würde dich nie betrügen. Doch meine Hand übernimmt das Kommando und überstimmt mein Herz. Nervös und wohl wissend einen Fehler zu machen, falte ich die Blätter auf und beginne zu lesen:
Lieber Erik,
nun bist Du schon seit zwei Wochen fort und ich kann Dich nicht vergessen. Ich denke jeden Tag an Dich. Am liebsten würde ich mich in den Zug setzen und Dich besuchen. Es war wunderbar, Dich kennenlernen zu dürfen. Der Abend mit Dir war wunderschön. Unvergesslich schön. Weißt Du noch, wie wir über den Jahrmarkt gelaufen sind? Und all die Lichter des Riesenrads! Schade, dass Du so weit weg wohnst und eine Freundin hast. Ich muss immer wieder daran denken, wie wir … na ja, du weißt schon. Vielleicht könntest Du …
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