„Immer soll ich machen, was du willst!“, schleudere ich ihm entgegen.
„Ich würde mich sehr freuen, dich am Freitag zu sehen. Wenn du das nicht willst, ist das deine Sache“, bemerkt er gespielt gelassen.
„Ich will dich doch auch sehen.“
„Anscheinend nicht.“
Langsam platzt mir der Kragen. „Wieso bin ich überhaupt hierher gefahren?“
„Das frage ich mich langsam auch. Vielleicht wärst du besser nicht gekommen.“
„Du bist so ein Idiot, Erik Sonnberg!“
Gerade, als er etwas antworten möchte, geht die Stubentür auf und sein Kamerad Axel Sommer kommt herein. Er schenkt uns beiden ein verblüfftes, aber breites Lächeln.
Ich mag Axel sehr, nur leider ist er in einem äußerst ungünstigen Augenblick aufgetaucht. Ich packe meine Handtasche mit einem schnellen Griff und stehe abrupt auf. „Die Folie über die AWACS ist fertig. Den Rest kannst du allein machen!“ Dann nicke ich kurz in Axels Richtung, rausche zur Tür, knalle sie laut hinter mir zu – wohl wissend, dass Erik das hasst - und stürze den Gang hinaus.
Ich höre Schritte hinter mir und Eriks Stimme: „Becca, bitte bleib stehen. Es tut mir leid! Ich möchte nicht, dass du gehst. Bitte!“
Ich wirbele herum und schaue in sein trauriges, besorgtes Gesicht. Seine Augen flehen mich an, nicht weiter zu laufen. Für einen Moment vergesse ich, dass ich total wütend bin. „Bitte, Kleine. Natürlich kannst du einen Mädchenabend machen. Ich war bescheuert! Verzeih mir. Vielleicht bin ich einfach viel zu viel mit Soldaten zusammen? Coole Sprüche, hartes Rumgetue, Befehl und Gehorsam, der ganze blöde Testosteron-Bundeswehrscheiß, du weißt schon.“
Ich sehe zu ihm auf und erkenne den Anflug eines reumütigen Lächelns in seinen Augenwinkeln.
„Erik Sonnberg. Wenn ich dich nicht so verdammt lieben würde, dann …“
Im Bruchteil einer Sekunde drückt er mich gegen die Wand und küsst mich sanft auf dem Mund. Unsere Lippen berühren sich kitzelnd und fordernd und tausendfach Funken sprühend. Unfähig unseren Kuss zu beenden, lasse ich es zu, dass er meine Hände über meinem Kopf in seine nimmt und nun fester und leidenschaftlicher gegen die Wand drückt. Fast verzweifelt schmiegt er seinen Kopf in meine Halsbeuge und atmet ‚mich’ in tiefen Zügen immer wieder ein.
Juni 1993
Mir ist unendlich kalt! Es schüttet wie aus Kübeln. Ich habe mal wieder den blöden Bus verpasst und laufe jetzt nach Hause. Dass diese doofen Schulbusse auch immer auf die Sekunde genau abfahren müssen! Bis nach Hilberg brauche ich mindestens eine Dreiviertelstunde zu Fuß. Allein der Gedanke an diesen Fußmarsch lässt mich innerlich aufstöhnen. Natürlich habe ich keinen Schirm dabei. Heute Morgen war bester Sonnenschein. Ich mache einen Bogen um die großen Pfützen. Über die kleinen steige ich drüber. Als ich in die Fuggerstraße einbiege, spiele ich mit dem Gedanken, mich kurz beim Modegeschäft Schöffel aufzuwärmen - die haben da so eine tolle Esprit-Abteilung – oder einen Abstecher in die Buchhandlung Schmid zu machen, verwerfe ihn aber schnell. Ich bin bis auf die Unterhose durchnässt und ich habe Hunger. Oh Mann, es ist noch so weit bis nach Hause!
Plötzlich hält ein Motorrad, eine schwarz-gelbe Enduro, direkt neben mir, der Fahrer schiebt sein dunkles Visier hoch. Überrascht bleibe ich stehen, mit beiden Füßen in einer großen Pfütze.
„Hallo, Becca. Du bist ja völlig durchnässt. Soll ich dich mitnehmen?“
Verwirrt trete ich etwas näher. Erst jetzt erkenne ich ihn. „Oh, hallo, Paul!“ Am liebsten würde ich sofort auf seine Maschine hüpfen, aber mein Anstand hält mich zurück. „Du hast ja gar keinen zweiten Helm dabei.“
Paul nimmt seinen eigenen ab und hält ihn mir hin. „Du kannst meinen haben.“ Der Helm ist schwarz mit weißen Streifen darauf und sieht echt cool aus.
„Dann hast du ja keinen mehr. Das kann ich nicht annehmen.“
Paul atmet tief aus. Seine Haare sind inzwischen schon ganz nass und kleine Wassertropfen hängen in seinen dichten Wimpern. Er hält mir immer noch den Helm hin. „Ich gebe dir zwei Möglichkeiten, Becca. Möglichkeit A: Du nimmst meinen Helm, setzt dich auf mein Motorrad und ich fahre dich nach Hause. Möglichkeit B: Ich setze dir meinen Helm auf, setze dich auf mein Motorrad und fahre dich nach Hause. Für welche entscheidest du dich?“ Seine Stimme hat einen warmen Unterton, aber lässt keinen Raum für Widerspruch.
Zögerlich und dankbar nehme ich den coolen Helm und sage: „Dann nehme ich Möglichkeit A.“
Paul lässt sein Motorrad wieder an, ein angenehmes, lautes Brummen ertönt. Wir fahren los. Ich rutsche dicht an ihn heran, umfasse seine Taille mit meinen Armen und lege meinen Kopf auf seinen Rücken. Es fühlt sich erstaunlich gut an, hinter ihm zu sitzen und ihn zu spüren.
Jetzt, auf den vertrauten Straßen, schweifen meine Gedanken ab. Verwirrt erinnere ich mich an das spöttische Funkeln um seine Mundwinkel, als Paul mich zum ersten Mal ansah, damals im Schulbus. Und ich erinnere mich, wie er mit einem Blick alle tuschelnden Stimmen zum Schweigen gebracht hat. Der Regen klatscht nass und grau auf mein Visier, die Sicht verschwimmt und ich fühle Dankbarkeit dafür, dass er mich damals völlig ohne Worte vor den anderen Kindern in Schutz genommen hat. Nur durch den Ausdruck seiner Augen.
Juli 1993
Der Saal ist elegant und modern zugleich. Er ist festlich geschmückt. Überall stehen große, runde Tische, weiße Tischdecken reichen bis zum Boden. Die Luftwaffe hat sich nicht lumpen lassen. Im Hintergrund spielt leise Pianomusik. Alle Offiziersanwärter tragen ihre blauen Ausgehuniformen. Die meisten Mädchen haben schwarze Abendkleider an. Mein Kleid ist schulterfrei, tailliert und mit einem dezenten Petticoat. Als einer der Ausbilder eine Rede über die Tugenden der Offiziere, ihre Wirkung nach außen und die ihnen bevorstehende noch härtere Jet-Ausbildung in den USA hält, stehen wir alle auf und Erik nimmt meine Hand und drückt sie ganz fest.
„Du siehst bezaubernd aus, Becca“, flüstert er in mein Ohr und löst einen Schauer in mir aus.
„Und du bist jetzt Offizier“, wispere ich zurück. Ich komme mir komisch vor in diesem Abendkleid. Es fühlt sich so offiziell an und außerdem trage ich nie Kleider. Heute gehört es einfach dazu.
Alle Absolventen beginnen den Ball mit einem Walzer. Es ist großartig, in dieser wogenden Masse zu schweben, ein Teil davon zu sein. Erik und ich schwingen über das Parkett, und obwohl er mir immer wieder versehentlich auf den Fuß steigt, lasse ich mir nichts anmerken.
Wir tanzen nur kurz. Dann bringt Erik mich an unseren Tisch zurück und rutscht einen Stuhl für mich zurecht. Dort sitzt auch eine junge Frau, die uns als Ann-Kathrin vorgestellt wird. Sie ist schlank und recht hübsch, wobei mich ihr Gesicht ein bisschen an das eines Windhundes erinnert. Ihre Haut ist leicht gebräunt, ihr Make up dezent, aber ihr Mund hat etwas Verbissenes an sich. Mir fällt auf, dass sie ihren Freund anschmachtet wie ein kleines Kind, das vor einem Zuckerbäcker steht, ihr Freund allerdings nur dann und wann ein Lächeln für sie übrig hat. Als nach einiger Zeit alle Offiziersanwärter unseres Tisches die Damen für einen Besuch an der Bar allein lassen, fragt sie mich direkt: „Warum liebst du Erik?“
„Wie bitte? Wie meinst du das?“ Sie ist mir unsympathisch und ich wünsche mir, Erik würde sofort zurückkommen.
Sie lehnt sich vor und sagt: „Ich finde es toll, dass Tom Jetpilot wird. Ich wollte schon immer mit einem Piloten zusammen sein. Das hat so etwas Heldenhaftes, findest du nicht?“
Jetzt bin ich vollkommen sprachlos. Das kann nicht ihr Ernst sein!
„Findest du es nicht klasse, einen Piloten als Freund zu haben?“
„Äh, also … ich … äh … noch ist er ja kein Pilot, sondern Offiziersanwärter. Keine Ahnung … als Pilot wird er viel unterwegs sein. Ich bleibe allein zurück. Er muss nach Italien, in die USA oder nach Kanada. Das macht mir Sorgen. Abgesehen davon, ist Kampfjetfliegen gefährlich.“
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