Einen wesentlichen Vorteil bietet Juhari denn doch: Sie wird keine Kinder mehr gebären, ist aber gefährdet, an AIDS zu erkranken, weil Massai Kondome verabscheuen. Sie stellt folglich einen begehrten Kampfplatz zur Verfügung, nicht nur für ihren Gatterich, sondern ebenso für manchen ehrenwerten Gast. Unter Massai gilt bekanntlich das Gastrecht, es einem Freund nicht zu verwehren, bei einer der Ehefrauen des Gastgebers übernachten zu dürfen. Doch wie lange kann das gut gehen. Arnold wird ja ebenfalls Ansprüche anzumelden haben.
Arnold. Ach ja. Den hat sie ja im Trubel der traditionellen Feierlichkeiten völlig vergessen. Er sie gleicherweise? Er hat sich geraume Zeit nicht gemeldet. Wie wird es ihm denn bei der arabischen Mira ergehen? Der Frau, die er geschwängert hat, dieser Hallodri.
Kurz entschlossen klingelt sie sein Mobilephon an.
*
Arnold liegt mit Botho in der Vertiefung, der Sandkuhle, die sie sich gegraben haben. Nicht, wie Judith eifersüchtig vermutet, in den Armen der Wüstenmira. Wüsten Mira? Das wäre ein anregendes Wortspiel.
Über ihnen senkt sich die Zeltplane, die bislang die Sandmassen von Beiden fernhält, zunehmend stärker auf die Schutzsuchenden herab. Ihre Köpfe sind mit Tüchern umwickelt, jedoch kaum noch mit Feuchtigkeit zur Abwehr der heißen Staubluft getränkt. Das atmen wird immer schweißtreibender, stechender, die Angst, zu ersticken steigert sich ins Unerträgliche. Die vom Tode bedrohten vermögen es jetzt nachzuvollziehen, wie es Delinquenten im Mittelalter vorgekommen sein muss, als der Henker ihnen die Kehle zudrückte; wenn ihre Augen hervorquollen, als die Todeskandidaten am Galgen stranguliert worden sind.
In dieser Notlage hört Arnold den Ruf seines Handys, eine Melodie, welche er unter angenehmeren Umständen ein programmiert hat. Er findet aber keine Möglichkeit, es zu erreichen. Den Butler zur Außenwelt hat er effizient verpackt in eine Satteltasche gesteckt, nicht ahnend, dass er in diesem Inferno angerufen werden würde. Ununterbrochen erklingt die kurze Melodienfolge, ein paar Noten von Ludwig van Beethovens FIDELIO. In der jetzigen Situation klingt das fraglos reichlich makaber.
Judith wundert sich, dass niemand die Empfangstaste drückt. Langsam wird sie ungeduldig. Weshalb reagiert Arnold nicht? Hat er Judith etwa bereits vergessen, über diesem jungen Ding, das soeben erst zur Geschlechtsreife kam?
Arnold würde gerne ein Lebenszeichen von sich geben, an die, die sich offenbar so um ihn sorgen. Ist es Mira, ist es Judith? Er hat aber keinerlei Möglichkeit, zu seinen Engelchen in dieser Welt in Kontakt zu treten. Und zu den überirdischen Engeln hat er nicht das kleinste bisschen Verlangen.
Noch immer heult der Staubsturm; nimmt das denn überhaupt kein Ende? Das Zeitgefühl ist den beiden Eingeschlossenen mittlerweile völlig abhandengekommen. Sind es Stunden oder nur Minuten, in denen das Atmen so beängstigend ist?
Nach längerer Zeit hat sich das Geheule aber doch etwas abgeschwächt, zumindest hören die Verschütteten es nicht mehr so infernalisch durch die Sandmassen. Können Hörorgane sich auf einen derartigen Krach einstellen und die Reizweiterleitung teilweise unterbinden? Oder liegen mittlerweile so umfangreiche Sandberge über ihnen, dass sogar Telefonstrahlen nicht mehr durchdringen? Nicht ein Schimmer Tageslicht verirrt sich durch die Sandlast; sie fühlen sich wie lebendig begraben.
Doch das Unwetter ist keineswegs vorbei. Jetzt geht das Wüten in einen Sandsturm über, aber davon bekommen die Verschütteten wenig mit. Sie merken nur, dass die Last, die auf ihnen ruht, immer erdrückender wird. Veränderbar ist ihre Lage kaum, sie sind unter den Zentnerlasten nahezu fixiert. Da ist doch der Lawinentod oder das Ertrinken in haushohen Wellen eine raschere Todesart, sinniert Arnold. Ist allerdings auch nicht sonderlich angenehm!!
Wieder und wieder meldet sich das Mobilefone. Nur gedämmt sind die Ruftöne zu hören, denn die Geräte hatte Arnold akribisch sorgfältig eingewickelt, um sie vor dem eindringenden Sand zu schützen. Und doch wirkt die kurze Melodie so oder so beruhigend, fast aufmunternd. Auch Beethoven hat das mit seiner Oper so darzustellen versucht.
Zum Erreichen des lebensrettenden Gerätes fehlt den Verschütteten weiterhin die Bewegungsmöglichkeit. Zu schwer lastet der Sand auf ihnen. Doch woher kommt weiterhin die spärliche Atemluft, die sie bisher am Leben erhalten hat? Seine Stimme klingt rau, nahezu außerirdisch, als Arnold versucht, zu Botho Kontakt aufzunehmen, von dem Freund ein Lebenszeichen zu bekommen.
» Hey, Spezi, sag mal was«. Keine Reaktion. Mit erheblicher Mühe tastet seine Hand nach dem Gefährten. »Du kannst doch jetzt nicht schlafen. Wir müssen sehen, dass wir hier wieder raus kommen, hey, wenn diese Scheiße vorbei ist«. Weiterhin ohne Antwort von Botho. Arnold gerät in Panik. »Botho, was ist los?«k rächzt Arnold mit vom Staub belegter Stimme.
*
Der zweite Tag der Hochzeitszeremonie beginnt für die Dorfbewohner nicht im normalen Rhythmus. Es wurde ja bis spät in der Nacht, fast bis zum heutigen morgen, das Dorf auf den Kopf gestellt. Unfassbar, mit welchen Energien und Durchhaltevermögen nahezu alle Dorfbewohner dabei sind. Von den Säuglingen bis zum ältesten Greis sind die Bewohner an den Feierlichkeiten beteiligt. Es gibt ja nicht viele Gelegenheiten im Jahresablauf, sich zu amüsieren.
einigen Tagen hatte die sehnsüchtig erwartete Regenzeit eingesetzt. Das ist die Zeit, wo die Samburu, also der Stamm der Massai, in den Juhari hineingeheiratet hat, seine Feste feiert. Auch andere Volksstämme begehen um diese Zeitstufe, wenn wieder alles zu wachsen und zu grünen beginnt, ihre Stammesfeiern. Seit Jahrhunderten hat sich an den Ritualen kaum etwas geändert.
Juhari hatte es rigoros abgelehnt, sich ihre Haare scheren und den Kopf und die Brüste mit Kuhdung einschmieren zu lassen. Sie hat vier Kinder. Da braucht man sie nicht mehr fruchtbar zu machen. Außerdem befindet sie sich in der Menopause. Sie trägt jedoch die traditionelle Kleidung und einigen Schmuck an Ohren und auf ihrem sehenswerten, entblößten Oberkörper. Diese exotische Ausstattung war ja der Auslöser, weshalb sie sich in den kernigen Naturburschen verliebt hat.
Zu Feierlichkeiten schmückt man sich nicht nur mit gewaltigen Ketten und Ohrgehängen, sondern tönt die Haut außerdem mit Henna. Die Farbe wird aus dem gleichnamigen Strauch gewonnen und haftet für einige Stunden oder gar Wochen auf dem Körper. Daran findet auch Juhari Gefallen.
Arnold müsste sie jetzt sehen können; er wäre gewiss begeistert, Judith in derartiger Aufmachung zu erleben. Zumindest bildet sie es sich ein.
Heute, am zweiten Tag der Feierlichkeiten, werden dazu drei weitere Hochzeiten gefeiert. Junge Männer, die inzwischen zu so vielen Kühen gekommen sind, dass sie sich die erste Frau leisten können. Denn sie haben Brautgeld zu zahlen an die Eltern, deren Tochter, oft im Alter von kaum zehn Jahren, nicht selten gegen den Willen der Halbflüggen, sie heiraten. Die Mädchen wechseln dann ohne Einspruchsmöglichkeit in den Besitz des Ehemannes über, der manchmal nicht mehr der Jüngste ist. Wie ein Stück Rindvieh auf dem Markt werden Töchter gehandelt, nur dass man den Kleinen nicht ins Maul schaut oder die Euter begutachtet. Zu früheren Zeiten wurden Sklaven so auf ihren Wert taxiert und in aller Öffentlichkeit auf Krankheiten und Arbeitstauglichkeit untersucht. Es waren weiße Araber, die mit den Schwarzen Handel trieben und zu Reichtum kamen.
kindhaften Lebensalter, kaum dass Mädchen geschlechtsreif geworden sind, werden sie geschwängert und tragen so zur Bevölkerungsexplosion der Welt bei. Doch Kinder gleich nach der Geburt zu töten, wie es einige Volksgruppen praktizieren, ist grausam. Da ist eine Geburtenkontrolle mittels Pille oder Kondomen zweifellos eine bessere Alternative. Man hat allerdings zu hinterfragen, weshalb die christliche Kirche sich derart vehement gegen Verhütung wehrt. Wo soll das hinführen; genau dagegen will Juhari etwas unternehmen. Schwer genug wird es werden, sich der Dominanz der männlichen Bevölkerung und der katholischen Institution zu widersetzen.
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