»Hättest wohl schon wieder gerne eine neue Hauri? Aber ja, das wäre das Gefährlichste. Dagegen vermag man sich kaum zu wehren. Leider ist der Mameluck nicht in der Lage, zu sagen, ob es ein Sand- oder ein Staubsturm sein wird. Denn nichts anderes als ein Staubsturm ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Ein Zyklon wirbelt mit unheimlichen Sandwolken daher, die reichen oft Hunderte Meter hoch und durchdringen alles. Sandstürme sind manchmal etwas harmloser, aber ebenso gefährlich. Gebe Allah, dass wir das überleben.« »Ja, Mira, du, unser Kind und euer ganzes Dorf. Und wir hier gerne desgleichen. Hör mal, ich glaube, es geht hier los. Auf den Dünen sehe ich kleine Wirbel, und die Kamele zerren außer sich vor Angst an ihren Fesseln. Werden versuchen, sie zu beruhigen. Hoffentlich ...« Der Rest seiner Worte verschwand im ersten wütenden Ansturm einer Windböe . Die Verbindung brach schlagartig ab. Botho hatte sein Möglichstes getan, das Gespräch zu übersetzen.
Zyklone entstehen im Indischen Ozean wie auch der arabischen See. Sofern sie landwärts ziehen, werden sie zu Sand- oder Staubstürmen, die in die Höhe reißen, was in den Bereich der Wirbel gerät. Wenn sie sich irgendwann abschwächen, fallen die in den Stürmen gebundenen Sandmassen zur Erde zurück und begraben alles unter sich wie ein Leichentuch.
Ob Arnold jetzt noch Judith erreichen kann? Er hat sie lange nicht gesprochen und will versuchen, sie ebenfalls von der hier bevorstehenden Naturkatastrophe zu unterrichten. Vor Kurzem hatte er sie anzurufen versucht, doch keine Verbindung zu ihr bekommen. Ob es unter diesen kritischen Umständen möglich sein wird?
Nach ersten heftigen Windstößen ist wieder eine seltsame Ruhe eingekehrt. Aber das ist immer die letzte Atempause vor einem Sturm. Arnold lässt Judith`s Handy zittern. Minutenlang. Keine Reaktion. Wo ist sie? Dann heult eine weitere Böe, erbitterter noch als die Erste. Arnold hat sein Mobilefone nun in feuchte Tücher einzuwickeln und darf nur hoffen, dass es das kommende Inferno unbeschadet übersteht. Das Gerät ist ihre Lebensversicherung. Fällt es aus, wäre es unmöglich, Hilfe herbeizurufen. Er vermag Judith nicht mehr Bescheid zu geben, was in der Wüste auf sie zukommt.
Die Freunde haben sich dieses Dünental ausgesucht in der Erwartung, hier eine friedliche Nacht verbringen zu können. Die so klar leuchtenden Sterne am Wüstenhimmel ließen die Europäer vor Bewunderung staunen, wie ungetrübt, fernab jeglicher Zivilisation, das Firmament zu strahlen vermag. kommenden Morgen sollte dann der Ritt zur Oase, zur kindhaften Frau des mittelalterlichen Zeitgenossen, fortgesetzt werden.
Gottlob erhielten sie die Warnung, und nur deshalb haben sie sich eine Gruft geschaffen, nicht, um darin zu sterben, sondern im Gegenteil, um zu überleben. Mit der Leinwand des Zeltes hat man den Trog überspannt in der Hoffnung, dass der Wüstensturms den Sand über die Europäer hinwegblasen wird. Das ungewohnte Bewegen großer Sandmengen, nur mit den Händen, hat die Freunde zusätzlich zur seelischen Belastung körperlich äußerst beansprucht.
Weil die dreißig Meter hohen Dünen den Reisenden den Blick versperren, vermochten sie bisher nicht zu erkennen, dass eine gigantische, dunkelgraue Wolke auf sie zurast. Jetzt aber registrieren sie voller Schrecken, dass diese Schwaden in nächster Nähe vor ihnen himmelhoch reichen. Der Himmel hat sich verfinstert, und dazu dröhnt plötzlich ein heulender Sturm, der sich von Minute zu Minute verstärkt. Eben noch beobachteten die Bedrohten den Kamm der Düne, um die Intensität der tanzenden Wirbel zu erfassen, jetzt verkriechen sie sich schleunigst unter das Zeltleinen, in die mit bloßen Händen geschaffene Vertiefung. Hoffentlich halten die wenigen Häringe das Ganze. Weitere wütende Windstöße wirbeln Sandmassen vor sich her, die Katastrophe hat sie erreicht, der Hades tobt über ihnen.
Den Geistern der arabischen Halbinsel sind die Europäer offensichtlich unwillkommen. Mittlerweile glauben sie selber, dass die Dämonen der Wüste, oder der Schaitan persönlich, zum Ziel haben, sie als unerwünschte Eindringlinge von hier zu vertreiben. Soll das eine Strafe sein dafür, dass Arnold die Wüstenblume als Christ geschwängert hat? Wenn der Deutsche auch selten einem Sexabenteuer aus dem Weg gegangen ist; diese Verbindung hat er nicht gewollt. Aber jetzt ist es geschehen, jetzt hat er Verantwortung zu tragen. Nicht anders ist Botho mit einer Muslimin umgegangen. Auf Verlangen des Scheich`s, des allmächtigen Herrschers über zwei Harem und des Emirates, hat er für Nachkommen sorgen müssen. Der Junge hat vor Kurzem das erste Lebensjahr vollendet.
Der Sturm gebärdet sich immer cholerischer, bis in den Zenit reichende Staubwolken stehen Verderben bringend über der Sandwüste, die ständig neue Nahrung hergibt. In der Tat ist es ein Zyklon, eine Stauborgie, die alles zu vernichten droht, kein Sandsturm. Der Unterschied zwischen diesen beiden Naturgewalten ist, dass ein Wüstenwind, der Sand mit sich bringt, meist in kurzer Zeit wieder vorbei ist. Ein Staubsturm dagegen kann stundenlang toben. Zwar wirken die scharfkantigen Sandkörner schneidender, vermögen aber doch nicht ungehemmt in alle Ritzen zu dringen. Gegen eine Staubwand vermag man sich nahezu überhaupt nicht zu schützen. Der dringt in die Augen und kann zur Erblindung führen, Nasenschleimhäute und die Alveolen der Lunge verstopfen mit der Folge, dass Betroffene qualvoll ersticken. Botho und Arnold sind in höchstem Maße gefährdet. Doch bisher schützt sie das Zeltleinen, das sie über sich gespannt haben.
Durch die Evolution, in vielen Millionen Jahren, haben sich die Atmungsorgane der Wüstenbewohner, Menschen wie Tiere, zwar angepasst. Bei extrem heimtückischen Stürmen wie diesem sind sie aber auch nicht vor einem Kollaps gefeit. Das gegenwärtige Unwetter kommt in der Tat als Zyklon daher, denn man hört in dem Inferno Töne, wie sie eine Kreissäge beim Schneiden von Holz von sich gibt. Das ist ein untrügliches Zeichen für einen Wirbelsturm, der alles, was nicht fest verankert ist, wie in einen gewaltigen Trichter hochsaugt. So ähnlich könnte man sich gleichfalls die Urgewalt eines astronomischen schwarzen Loches vorstellen.
Arnold wie Botho vermögen das zwar nicht zu sehen, weil sie sich unter dem Zeltleinen auf dem Erdboden zusammengekrümmt haben. Trotzdem ist ihnen bewusst, was sich über ihren Köpfen abspielt. Das Zeltdach, das sie schützen soll, senkt sich durch die Sandlast, die sich darauf ablegt, immer spürbarer auf die Beiden. Sollte der Sturm nicht bald nachlassen, wird ihr Schutzraum kontinuierlich weiter eingeengt. Zentnerlasten könnten sie erdrücken oder, was genauso tödlich ist, ersticken. Die Wirkung ist vergleichbar mit einer Schneelawine, wenn Skiläufer darunter begraben werden. In der arabischen Wüste gibt es aber keine Bergretter und Lawinenhunde, die sie suchen und befreien könnten. Und Beduinen? In früheren Zeiten waren es Räuber. Da sind Verschüttete ebenfalls nicht lebend davongekommen.
Gefühlte Stunden tobt der Sturm schon, und es zeigen sich keinerlei Anzeichen, dass er nachlässt. Wenn Arnold gemeint hatte, der Zeltstoff würde den Sand von ihnen abhalten und über sie hinwegblasen, hat er sich geirrt. Das Zeltleinen mit der Sandlast senkt sich immer bedrohlicher auf die Eingeschlossenen, das Atmen erweist sich zunehmend als erschwert. Wie lange dauert die Tortur noch an? Wie groß ist die Chance, mit dem Leben davonzukommem?
Und wenn die Menschen das Inferno überleben sollten, vermögen die Kamele das ebenso? Die liegen ohne jeden Schutz da oben, und es wären die einzigen Lebewesen, die sie hier wieder herausführen könnten.
Keine Unterbrechung gönnt sich die Katastrophe, wild tobt es in der Atmosphäre weiter. Es ist unmöglich, dass Arnold sich mit Botho über ihre lebensbedrohliche Lage auszutauschen vermag. Sie dürfen nicht wagen, sich aus den Tüchern, die sie sich um ihre Köpfe geschlungen haben, herauszuschälen. Nichtmal Blickkontakt haben sie miteinander und sehen nur an leichten Bewegungen, dass sie weiterhin atmen. Keine Ahnung, ob die drückende Last sie zermalmen wird, wenn das Inferno stundenlang toben sollte.
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