1 ...8 9 10 12 13 14 ...26 Weg, mein IKEA-Regal ist weg! Und statt ihrer Filterkaffeemaschine stand da jetzt ein verfluchter Nespresso-Automat.
Das war zu viel. Ganz einfach zu viel. Sie schmetterte die Kaffeedose auf die Anrichte und den Filter direkt daneben. Jenny war entschlossen. Sie würde jetzt die Tür ihres neuen Mitbewohners aufreißen und ihm ordentlich die Meinung geigen. Wenn man zu einer neuen Gruppe von Menschen hinzustieß, musste man erst einmal nach ihren Regeln leben! Keinesfalls änderte man alles an einem Tag! Und schon gar nicht ohne Rücksprache mit den anderen. Zudem legte man seine verdammten Kondome den anderen nicht vor die Nase. Und sein XXL-Ding konnte er sich sonst wo hinstecken!
Das Wummern ihrer Fersen donnerte durch die Küche. Sie ergriff die Klinke, wollte aus der Küche hinaus in den Flur stürmen. In diesem Moment fiel ihr Blick auf die Zeitung, die sich nach wie vor auf dem Tisch befand. Sie drückte die Klinke herunter, riss die Tür auf. Erst dann erreichte die Bedeutung der Schlagzeile ihr Bewusstsein. Sie blickte sich erneut um. „Brutaler Nazimord in Landsberg am Lech“ – die reißerische Headline des Aufmachers brannte sich auf ihre Netzhaut.
Sie ließ die Klinke wieder los, warf die Tür ins Schloss. Mit einem Mal war die ganze Wut wie verpufft. Wie betäubt sackte sie auf den Küchenstuhl. Sie schlug die Zeitung auf und las:
Brutaler Nazimord in Landsberg am Lech
Landsberg am Lech. Es ist ein Bild des Grauens: Mit starrem Blick zur Decke liegt der leblose Körper auf dem Boden eines Landsberger Autohauses. In seiner Brust: der Ehrendolch eines SS-Offiziers. Das zumindest behaupten Augenzeugen. „Die Identität des Mordopfers ist noch nicht geklärt“, sagte Hauptkommissar Heiko Plossila gestern am Tatort. Aus sicheren Quellen erfuhr der Landsberger Bote allerdings, dass es sich um den Briten Kenneth Middleman handelt.
Der Londoner ist kein Unbekannter für Scotland Yard: Er galt lange Zeit als einer der Köpfe der rechtsextremen British National Party. Die BNP ist für ihre rigide Politik gegenüber Ausländern bekannt, will Mischehen verbieten und den Anteil weißer Bevölkerungsschichten steigern. Als Hardliner trat Middleman in der Partei für ein Verbot von Homosexualität ein sowie für eine harte Gangart gegenüber Einwanderern. Die Strategie, Ausländern die Rückkehr in ihre Heimat durch finanzielle Anreize schmackhaft zu machen, lehnte er ab. Stattdessen sollten Ausländer schlichtweg abgeschoben werden, unabhängig von ihrem Rechtsstatus in Großbritannien.
Middleman werden zudem Kontakte zur radikalen Splittergruppe Combat 18 nachgesagt. Die Ziffer 18 im Namen steht für die Buchstaben „A“ und „H“ im Alphabet – die Initialen Adolf Hitlers. Combat 18 wurde 1992 gegründet, schon im gleichen Jahr wurde sie als Saalschutz für eine Veranstaltung der BNP eingesetzt. Redner an diesem Abend war der bekannte Holocaust-Leugner David Irving. Auf das Konto von Combat 18 gehen weltweit Morde an Ausländern, Schwarzen und Homosexuellen. Die Gruppe arbeitet ohne eindeutige Führungsstrukturen, jeder, der sich berufen fühlt, kann in ihrem Namen morden.
Als es 1999 in London zu einer Reihe von Anschlägen in einer Gegend kam, die überwiegend von Asiaten und Schwarzen bewohnt wird, nahm die Polizei auch Middleman vorübergehend fest. Ein Zusammenhang mit den Anschlägen, bei denen mehrere Menschen starben, konnte Middleman aber nicht nachgewiesen werden.
In den vergangenen Jahren ist es ruhig um den 53-Jährigen geworden. Das letzte Mal fiel er medienwirksam vor drei Jahren auf: Er versuchte, einen Perserteppich, der angeblich aus Hitlers Münchner Privatwohnung stammte, aus Deutschland zu schmuggeln. Doch wurde Middleman vom Zoll gestoppt, der Teppich wurde beschlagnahmt. Da sich Zeitzeugen allerdings nicht erinnern konnten, den Teppich jemals in Hitlers ehemaliger Wohnung am Münchner Prinzregentenplatz 16 gesehen zu haben, durfte Middleman den Teppich schließlich behalten.
Was Middleman nach Landsberg am Lech geführt hat, ist noch ungeklärt. Da er allerdings durch einen SS-Dolch getötet wurde, ist ein rechtsradikaler Hintergrund der Tat mehr als wahrscheinlich. Sebastian Lutz
Der Text war nicht schlecht recherchiert, das musste Jenny zugeben. Der Reporter hatte innerhalb eines Tages mehr über Middleman herausgefunden als sie. Und sie wusste somit schon einmal, was es mit diesem ominösen C18 auf sich hatte. Diese Vereinigung machte Angst, nicht auszudenken, wenn Anhänger dieser Gruppierung Oberbayern unsicher machen würden. Ein kalter Schauder jagte ihr den Rücken herunter, als sie an die Opfer der NSU-Attentate denken musste. Auch in Bayern hatten diese Irren zahlreiche Unschuldige umgebracht. Da war es ihr in der Tat lieber, die Rechten metzelten sich gegenseitig nieder.
Ein dunkles „Guten Morgen“ riss sie aus den Gedanken.
Sie zuckte zusammen, blickte auf. In der Tür stand ein drahtiger Typ, etwa Mitte Dreißig mit braunem, seitlich in die Stirn gelegtem Haar und einem gestutzten Vollbart. Er trug einen azurblauen Bademantel, auf dessen linke Brustseite die Initialen „A.C.“ gestickt waren. Er hielt ihr seine Hand entgegen, seine Augen funkelten wie geschliffener Bernstein. „Arno. Du musst Jenny sein! Schön, dich kennenzulernen.“
„Ich ja, das bin ich ... danke ...“, stotterte sie und stand auf. Sie spürte, wie sich seine langen, festen Finger um ihre Hand schlossen, entzog sie ihm aber direkt wieder, um sich den Gürtel des Bademantels fester zuzuziehen.
„Entschuldigung, aber wir haben dein IKEA-Regal in den Keller geräumt, um Platz für die Anrichte zu schaffen. Ich hoffe, es ist dir recht. Wenn nicht, können wir das natürlich wieder ändern. Aber ich wäre dir schon sehr dankbar, wenn du einverstanden wärst. Ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob ich diese Fabrikware schon morgens ertragen kann.“
Jenny blickte auf das Möbelstück. Es bestand im Grunde aus einer Kommode, auf der ein Aufsatz stand. Offenbar war der Schrank nachträglich weiß lackiert worden, deutlich sah man das hellbraune Holz hindurch schimmern. Überall standen kleine Splitter ab, Macken übersäten das Furnier und die beiden Türknöpfe waren abgebrochen. Immerhin verbreitete die bauchige Emaille an den oberen Fächern des Möbels eine warme Atmosphäre und auf dem Oberteil der Anrichte prangte ein schöner geschwungener Aufsatz in der Form einer Muschel.
Sie trat einen Schritt näher und ließ ihren Blick über die kleinen, schwarzen Löcher gleiten, die der Holzwurm hinterlassen hatte. Wenn sie ehrlich war: Das Ding war für sie eher ein Kandidat für den Sperrmüll als ein gleichwertiger Ersatz ihres mehr oder weniger neuen IKEA-Sideboards.
Sie blickte zu Arno, der sich eine Hand unter das Kinn gelegt hatte und versonnen auf sein Möbelstück blickte. Offenbar sah er das vollkommen anders.
„Das ist Shabby Chic“, rief plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund.
Sie gehörte Silvani, die auf ihren halbhohen Knöchelspangensandaletten aus ihren Zimmer gestöckelt kam. Es war überraschend genug, dass die Studentin bereits vor acht Uhr morgens ihr Zimmer verließ. Dass sie dies aber bereits komplett geschminkt und frisiert tat, war kaum zu glauben.
„Guten Morgen, Arno, ich hoffe, du hast gut geschlafen. Es war ja deine erste Nacht hier bei uns, die ist ja immer von Bedeutung. So wie man die erste Nacht in der neuen Wohnung schläft, so schläft man auch während der kommenden Zeit, nicht wahr?“, sagte sie tussig und schob sich in die Küche. „Ihr habt euch schon bekannt gemacht?“
Jenny nickte, setzte sich wieder zu ihrer Zeitung und begann, den Artikel herauszureißen.
Silvani drehte sich wieder zur Anrichte. „Wunderschön, nicht wahr? Gründerzeit, wenn ich das richtig verstanden habe, Arno?“
„Ja, ich schätze um 1890 etwa. Ich habe das gute Stück bei einem Umzug in Köln auf einem Dachboden gefunden. Die Besitzer wollten es schon wegwerfen und haben es mir dankenswerterweise umsonst überlassen. Kaum zu glauben, oder? Ein Freund hat es dann leicht restauriert, da die Substanz nicht mehr so gut war, habe ich es dann selbst im Shabby-Look lackiert. Ist gelungen, denke ich.“
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