„Glaubst Du ernsthaft, dass Sie mir erst eins verpasst, um mich dann zu retten?“
Hell schloss für einen Moment die Augen. Bloß jetzt nicht losbrüllen!
„Was wäre besser dazu geeignet, einen Bullen um den Finger zu wickeln? Na?“, fragte Hell betont ruhig.
Die beiden Männer standen voreinander wie Gladiatoren. Rosin war diese Standpauke, die ihr Kollege von Hell erhielt, extrem peinlich. Sie saß an ihrem Schreibtisch und versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Vergeblich.
Wendt überlegte. Er hob die Hände abwehrend vor sich hin. „Schon gut. Mag sein, das war unglücklich, sie hier her zu bringen. Dennoch bin ich sicher, sie hat nichts getan.“
Hell lächelte zynisch. „Wer macht zurzeit eine Ausbildung zum Profiler? Du oder Christina? Wenn Du das besser kannst, erspart es sich unsere Abteilung besser, die Ausbildung weiter zu zahlen oder?“
„Nein, sicher nicht.“ Wendt warf sich mit Schwung auf seinen Drehstuhl.
„So, jetzt gehen wir beiden hier an die Arbeit. Und dich will ich erst wieder sehen, wenn Du im Krankenhaus warst.“ Er zeigte erst auf seine Brust, dann zu Rosin herüber. Dann auf die Türe. Wie ein Verkehrspolizist blieb er solange stehen, bis Wendt mit einem mürrischen Brummen aufstand und den Raum verließ.
„Wann kommt die erste Ausstrahlung von ‚Oskars‘ Stimme?“, fragte er Rosin, um wieder zur Arbeit überzugehen. Seine Hand wanderte an seine Narbe auf der Stirn.
„Um zwölf Uhr“, antwortete sie mit einem scheuen Blick.
Hell blickte auf sein Handgelenk und ließ Rosin alleine im Büro sitzen. Die Glastür schepperte. Da öffnete Klauk die Türe und hielt sich am Türrahmen fest.
„Wer verhört jetzt diese junge Frau?“
Rosin zuckte bloß mit den Schultern.
*
Hell hatte das Gefühl, sein Kopf sei ein Karussell. So viele Gedanken schwirrten parallel darin herum. Er hielt kurz die Luft an, schaute auf Lea Rosin, die an ihrem Platz saß und auf die Glastafel starrte.
Was ging ihr im Kopf herum? Auf der Tafel war wenig zu sehen. Verdammt wenig. Was hätte Stephan Gerickes Schwester dort sehen können?
Habe ich Wendt umsonst angeblafft? War das überzogen?
Nein, es konnte nicht angehen, dass sein Stellvertreter sich so einen Lapsus leistete. Jederzeit musste man damit rechnen, dass Staatsanwalt Überthür - in dem Moment, wo er diesem Mann den Titel überstreifte, spürte er die Abneigung dagegen beinahe körperlich - auf dem Flur stand und spionierte. Konnte es sein, dass solch ein Karrierist die Position von Gauernack dauerhaft einnahm? Jede Faser seines Körpers wehrte sich dagegen.
Bist Du dir sicher, dass Du Wendt nicht nur so angemacht hast, weil dir diese Entwicklung so stinkt, wie nichts in den letzten Jahren?
Die Antwort darauf blieb er sich schuldig, denn in dem Moment klingelte sein Telefon vor ihm. Die neue Telefonanlage war ihm noch fremd, es dauerte einige Klingeltöne, bis Hell die richtige Taste zum Annehmen des Gespräches fand. Der Anrufer kam über den Lautsprecher des Telefons.
Es war ein Mitarbeiter der KTU, dessen Namen Hell noch nicht geläufig war. Er teilte ihm mit, dass der Mazda MX5 nun auf dem Weg in die Tiefgarage der KTU sei. Man habe allerdings vor dem Abtransport des Fahrzeuges keine Tasche oder Überreste einer Tasche gefunden, so wie Wendt sie beschrieben hatte. Der Innenraum des PKW sei allerdings durch die Einwirkung des Feuers stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Sobald ein abschließender Bericht vorläge, würde man sich erneut melden. Eine weitere Gruppe wartete noch auf die Genehmigung, die Garage von Stephan Gericke zu untersuchen, sagte er zum Abschluss.
Hell bedankte sich und suchte eine Taste, um das Gespräch zu beenden. Schließlich fand er sie.
Dieser Fall blieb schleierhaft. Gab es überhaupt eine ‚Causa Gauernack‘?
Der Schlüssel zu allem war Stephan Gericke, doch der war untergetaucht. Aber war das schon ein Beweis dafür, dass Gauernack einem Verbrechen zum Opfer gefallen war?
Hell schob mit einer energischen Bewegung den Stuhl zurück und ging herüber zu Lea Rosin.
„Lea, kommst Du mit? Ich möchte mal sehen, wer Wendt so den Kopf verdreht hat.“
Sie legte ihren Tablet-PC zur Seite. Hell sollte nicht sehen, dass sie gerade auf der Seite eines schwedischen Möbelhauses nach Einrichtungsgegenständen für ihre neue Wohnung suchte. Bei seiner heutigen Laune wäre ihr sonst der nächste Anschiss sicher.
Sie beeilte sich den Tablet-PC vor seinem Blick zu verbergen und stand schnell auf. „Sicher Chef, sofort.“
Hell öffnete die Türe zum Nebenraum des Verhörraumes. Klauk stand vor der nur von dieser Seite durchsichtigen Scheibe und beobachtete Christina Gericke, die auf einem Stuhl saß.
Er blickte Hell und Rosin kurz an. „Sie ist extrem verunsichert. Sie bringt es nicht fertig mal ein paar Sekunden ruhig zu sitzen.“ Tatsächlich fuhr sich die Blondine gerade durch die Haare und betrachtete ihre Haarspitzen.
Sie schielte dabei auf eine Strähne.
„Sie ist zurzeit arbeitslos. Sie hat Abitur gemacht, dann ein Jahr im Ausland verbracht. Au pair oder so etwas in der Richtung in Amerika“, berichtete Klauk, „Ich habe sie gecheckt.“, sagte er mit einem Grinsen.
„Wenigstens einer, der sich nicht von blonden Locken und einem weiten Ausschnitte betäuben lässt“, sagte Hell.
„Wer weiß“, sagte Lea Rosin mit einem Seitenblick auf ihren jungen Kollegen.
„Pass auf“, sagte Klauk und versuchte Rosin in die Seite zu knuffen. Die wich geschickt aus.
„Wer geht rein von euch, ihr Kindergartenkinder?“
„Ich dachte Sie machen das, Chef?“
„Nein Lea, ich lasse dir den Vortritt.“ Sie zögerte.
„Na los, geh schon. Sonst geh ich rein. Wenn ich mir die Locken so ansehe …“, scherzte Klauk.
Zehn Sekunden später betrat Lea Rosin den Raum. Schon beim Öffnen der Türe bereute sie es, sich nicht vorher mit den technischen Gegebenheiten in dem neuen Verhörzimmer vertraut gemacht zu haben. Mit einem schüchternen Blick suchte sie nach den Kameras, die sich in den Raumecken befanden.
Sie nickte Christina Gericke zu, setzt sich ihr genau gegenüber. Mit gesenktem Kopf empfing die junge Frau ihre erste Frage. Scheu. Angstvoll.
„Erstes Gespräch mit Christina Gericke. Es ist kein Anwalt anwesend, da es nur ein informelles Gespräch ist. Gesprächsführung hat Polizeiobermeisterin Lea Rosin“, sagte sie, nachdem sie das digitale Aufnahmegerät in Betrieb genommen hatte.
Christina Gericke schüttelte mit einem Ruck ihre Mähne zurecht. Rosin meinte, für einen Bruchteil einer Sekunde so etwas wie Kampfeslust in den Augen der Frau gesehen zu haben. Doch dann war sie wieder verflogen.
Du hast dich getäuscht, dachte sie.
„Frau Gericke, was könnte ihren Bruder dazu verleitet haben, ungebremst in den Gegenverkehr zu fahren und dabei einen Menschen zu töten?“, fragte Rosin.
„Nichts!“, antwortete sie energisch.
„Sie sollten wissen, dass der Getötete ein Kollege war. In solchen Fällen sind wir alle sehr beteiligt und haben noch mehr Interesse an der Aufklärung, wie bei einem normalen Fall.“
Rosin beobachtete ihr Gegenüber genau. Ebenso Hell und Klauk hinter der Glasscheibe.
„Mein Bruder ist Mechatroniker, der weiß noch nicht einmal wie man das Wort ‚Staatsanwalt‘ schreibt. Der schraubt an Autos herum, das ist seine Welt. Er ist kein Krimineller, der Menschen tötet.“ Sie klang sehr überzeugt.
„Sie selber haben aber Abitur.“
„Ja, macht mich das weniger verdächtig, ein Krimineller zu sein?“
Sehr schlagfertig ist sie, dachte Rosin.
„Nein, das tut es nicht. Es macht ihren Bruder aber verdächtig, dass er untergetaucht ist. Frau Gericke, wo ist ihr Bruder?“
Sie warf ihren Kopf in den Nacken. „Ich habe das schon ihrem netten Kollegen mit der Beule am Kopf gesagt. Ich weiß nicht, wo sich Stephan aufhält. Ich wollte nach ihm sehen, weil er nicht an sein Handy ging. Ich machte mir Sorgen. Da er nicht zuhause war, fuhr ich in seine Werkstatt. Dort fand ich ihren Kollegen vor dem brennenden Auto liegen. Den Rest kennen sie ja bereits.“
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