Am Ausgang trat ihm Kamael entgegen. „Wie könnt Ihr es wagen, den Hohen Rat dermaßen zu brüskieren?“
Jedoch hatte sein Rivale keine Antwort für ihn parat, außer einem knurrenden: „Aus meinen Augen, Zweitrang!“, dann schob er ihn derb zur Seite.
Michael schickte sich an, eilends seinem Bruder zu folgen, der gerade wütend die Tür aufgestoßen hatte, als ihn Gabriel warnend aufhielt.
„Warte!“
Sie war der einzige weibliche Engel in der oberen Triade und von Gott persönlich sehr geschätzt. Wenn sie Gehör suchte, war es stets ratsam, es ihr zu geben.
„Was ist?“, fragte er zurück.
„Das frag ich dich. Was ist mit ihm los?“ Es war selbstverständlich, wen sie meinte.
Er hob abwertend die Hände. „Ach nichts. Er hat bloß seinen Moralischen heute. Ist wegen der Schlacht schlecht drauf. Bestimmt beruhigt er sich bald.“
Raphael murmelte in ihre Unterredung hinein: „Schöne Moral, er hat einen meiner Leute getötet.“
„Ich rede mit ihm, keine Panik“, beschwichtigte Michael beide. „Er wird sich einkriegen.“
„Wenn nicht, solltest du das Gott sagen“, riet Uriel streng. „Es ist nicht gut, wenn ein Engel mit seiner Macht plötzlich anfängt, durchzudrehen.“
„Behalte deinen Bruder besser im Auge, Michael“, drängt Gabriel ihn leise. „Ich beobachte seinen Wandel mit Sorge. Von ihm geht Gefahr aus.“
Kaum wieder außerhalb der weißen Mauern, landete Luzifel mitten in den bunten Feierlichkeiten der arglosen Stadtbewohner.
Jubelten die wirklich noch immer wegen dem kleinen Scharmützel? Na gut, seit dem letzten Krieg gab es halt keinen Grund mehr für ausgelassene Festlichkeiten. Da musste jeder Moment genutzt werden, der Anlass zur Fröhlichkeit gab.
Er schüttelte den Kopf und machte einen weiten Bogen um die lustige Gemeinde. Mit all dem selbstgerechten Pack wollte er nichts zu tun haben. Auch brauchte er jetzt weder Bewunderer noch Speichellecker. Was er brauchte, war ein wenig Zerstreuung.
Und wo die zu finden war, wusste er genau.
In Azilut bot sich dazu nur ein Ort an. Ein absoluter Geheimtipp, dessen Hüter er war. Alles nur wegen dem Rat, welcher meinte, dass solche Gelüste nichts in der Stadt Gottes zu suchen hatten. In Wilon, der ersten Himmelsphäre, fand man sie dagegen schon häufiger.
Luzifel ging die Hintergassen der Stadt entlang, wo es nicht mehr ganz so weiß glänzte oder in Silber und Gold schimmerte. Die Wege waren schmal, die Treppen steil und es herrschte eine Stille, die ihm erstaunlich gut tat. Zwar konnte man trotzdem über die Dächer hinweg leise das Echo des Trubels auf dem Platz vernehmen, aber das kümmerte herzlich wenig.
Drei, vier Ecken weiter erreichte er endlich ... die einzige Kneipe Araboths. Ohne anzuklopfen platzte er in den Raum und setzte sich an einen der vielen freien Tische.
Es gab ein gesetzliches Schema für alle öffentlichen Einrichtungen: Hauptsache Weiß. Daher waren Bibliotheken, Ausstellungshallen, Kasernen und jede Form von gastlichen Gewerben dazu verpflichtet, ihre gesamte Innengestaltung darauf auszulegen. Es zeugte von Mut – oder Größenwahn – davon abzuweichen und – wie hier – unlackiertes Holz und braune Tonkrüge vorzuweisen. Weinrote Vorhänge verdunkelten die Fenster und sperrten alles Licht aus, was den Ort zu einem gemütlichen, halbdunklen Plätzchen werden ließ. Eine Wohltat für strapazierte Sinne.
Hoffentlich war der Inhaber nicht auch zur großen Sause hin ausgeflogen ...
Mitnichten.
„Sieh einer an. Hast dich wieder verlaufen?“, begrüßte ihn der Wirt, aus dem Lager hinter der Theke sprechend.
„So ungefähr, Ramuel“, antwortete er ihm vertraut.
Eindrucksvoll wie ein rauer Berg erschien Ramuels Gestalt im Türrahmen und kam auf ihn zu. Mit seiner Größe, dem schwarzen Zottelhaar, dem Spitzbart und den dicht bewachsenen Augenbrauen hätte der Engel Metatron und seinem Gebot zur Körperpflege einen gehörigen Schrecken eingejagt. Nicht einmal die saubere weiße Robe oder der Silberreifschmuck an Ramuels Armen hätte ihn in den Augen des Rates aufwerten können, aber Luzifel war das egal.
Der Wirt machte eine spaßige Verbeugung vor dem Seraph und sprach: „Dass der Fürst aller Engel mir gewöhnlichen Grigori die Ehre erweist, meine bescheidene Kaschemme aufsucht, um sich an einer kleinen Sünde zu laben – jederzeit stelle ich mich in Euren Dienst.“
„Jetzt übertreib mal nicht!“, lachte sein Gast schallend. „Mach lieber ’nen Spruch, was du mir anbieten kannst!“
„Für dich, mein Freund, nur das Beste“, ließ Ramuel frech feixend die Höflichkeit sausen und griff nach einer versteckten Flasche hinter dem Tresen. „Ein erlesener Tropfen aus der Heimat, vom ältesten Rebstock.“
Er stellte zwei Krüge auf die Tischplatte und goss diese voll mit lieblichen roten Wein, den man nur bei einem Grigori erstehen konnte. Hätte der Seraph als Ratsmitglied einst nicht für Ramuel gesprochen, hätte der längst seine Sachen packen müssen. Aus Dankbarkeit dafür brauchte Luzifel nie wieder für ein Getränk bezahlen. Die Bar unterstützte er dennoch weiter finanziell als stiller Teilhaber.
Er mochte die Grigori. Sie machten sich nichts daraus, als zehnter Chor ganz unten in der Klasse zu stehen, waren gesellig, schlagfertig und fanden immer einen Grund zum Ausgelassensein. Sie genossen ihr schlichtes Bestehen in allen Zügen, tranken ihren Wein, sangen unverschämte Lieder und schwankten bereitwillig auf der Grenze zwischen Tugend und Sünde (welcher auch einige leichtsinnige Narren verfielen). Die Oberen hielten sie für Barbaren, obwohl das Blödsinn war. Sie hatten bloß andere Ansichten als Gott und ihr steifes Gefolge. Die Grigori wussten, dass für sie kein Platz in den Triaden war, und es war ihnen gleich. In fadenscheiniger Unschuld hätten sie nie leben können.
Gern hätte er etwas von ihrer Seite gehabt. Gern würde er allen Problemen mit einem Lächeln trotzen. Wie schafften die es nur, so ungerührt zu bleiben? Jenes lockere „Was soll’s? Schwamm drüber!“ zu sagen, fiel ihm besonders schwer.
Diesem sorglosen Gefühl wollte er sich ergeben. Hier einmal er selbst sein, unbedeutend, ohne Rang und Titel. Ein einfacher Jedermann, der sich einen Schluck Freiheit genehmigte.
Dem Wirt prostete er kurz zu und trank den Wein in einem Zug.
Michael suchte ihn überall in der Stadt, bis ihm zuletzt ein Flecken einfiel, von dem er zwar seinen Bruder hatte reden hören, dennoch es nie für möglich gehalten hätte, ihn dort vorzufinden. Schlicht, weil der Laden nicht gut genug war für den angesehenen Hauptmann der Weißen Garde. Was würden die Soldaten davon halten, wenn sie hörten, ihr Herr treibe sich in der untersten Schiene der Gesellschaft herum?
Bei dem Gedanken kurz mit den Augen rollend, rannte der Engel durch die schmalen Gassen und schlüpfte durch einen schattigen Türbogen.
Er glaubte nicht, was er sah.
Sein großer Bruder saß mit einem gewöhnlichen dunklen Grigori zusammen an einen Tisch und beide waren sturzbetrunken. Sie soffen Wein aus Flaschen, welchen nur der zehnte Chor herstellen konnte, und redeten lautstark und lallend, dass Michael froh war über die Leere des Raumes, sonst wäre es peinlich geworden.
Gut, er hatte auch vorgehabt, sich einen Drink zu genehmigen. Doch das?
„Wenigstens du hörst mir zu“, vernahm er Luzifel, der zu dem Wirt vertraut redete. „Du kannst dir nicht vorstell’n, wie gut du’s hast, Ram. Ich da oben hab echt nur den Kürzer’n gezog’n! Die sag’n alle so ’nen Mist wie: ‘Mach dir kein’ Kopf, Lou, das kommt schon alles ins Lot’, aber verdammt, nein, kommt’s eben nicht! Ich mein, wo steh ich denn? Du hast ’nen super Platz, Ram, aber ich weiß nicht, wo ich hingehör! Und Gott kann da auch nicht helfen, wegen der hab ich ja die Probleme! Bin ich echt nur dazu da, ihre Teufel zu töten? Man nennt mich schon Todesstern. Super, wa’?“
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