Victor Steinmann wusste exakt, wie er seine Zuhörer fesseln konnte, nicht nur im Konzertsaal, wenn er Orchester und Publikum gleichermaßen im Griff hatte, sondern auch bei jedem anderen beliebigen Auftritt in der Öffentlichkeit. Diese waren allerdings sehr selten und wurden sorgfältig von ihm ausgewählt. Ein Interview mit Victor Steinmann, das in einer Zeitung oder einer Musikzeitschrift erschien, musste einen triftigen Grund haben und so wohldosiert gestreut werden, dass es von der Leserschaft gierig aufgesogen wurde.
Er hielt sein Privatleben, soweit es ihm möglich war, streng unter Verschluss und äußerte sich nur zu seiner Arbeit und zu musikalischen Themen. Am liebsten klagte er den Journalisten über den Zerfall der klassischen Musik in unserer Zeit, über die Schnelllebigkeit der Gesellschaft und den damit verbundenen Mangel an Konzentrationsfähigkeit der jungen Menschen und deren Unfähigkeit, sich somit auf musikalische Erlebnisse im Konzertsaal einzulassen.
Doch als Person des öffentlichen Lebens waren seine Aktivitäten außerhalb der Konzertsäle natürlich ein beliebtes Sujet, und zahlreiche Boulevard-Journalisten und Paparazzi waren sehr interessiert daran, den Teil seines Lebens der Leserschaft näher zu bringen, den der Dirigent am liebsten unter Verschluss gehalten hätte. Und da er sich zu solchen Themen selber nie äußerte, rankten sich unzählige Mythen und Legenden um das Privatleben des großen Maestros.
Wenn man sich die Zeit nahm, die Gespräche mit Victor Steinmann in den Medien aufmerksam miteinander zu vergleichen, so musste man unweigerlich zum Schluss kommen, dass der Maestro eigentlich selten etwas Neues zu verkünden hatte. Eigentlich glichen die Reportagen oder Interviews einander wie ein Ei dem anderen; nicht zuletzt dadurch bedingt, dass es ihm eben immer wieder gelang, seinem Gegenüber die von ihm gewünschten Fragen in den Mund zu legen und somit seine gründlich von ihm vorbereiteten Antworten zum Besten geben zu können – so wie zum Beispiel seine ersten musikalischen Erinnerungen.
Es gehörte auch zur systematisch einstudierten Inszenierung, dass er die Fragen bedächtig entgegennahm und sich mit der Formulierung der Antworten reichlich Zeit ließ, sodass der Fragesteller in der Tat den Eindruck haben musste, dass sich sein Gegenüber sehr genau überlegt, was er nun antworten und mit welchen Worten er es formulieren will.
»Meine ersten musikalischen Erinnerungen ... Ja, das ist gar nicht so einfach. Lassen Sie mich einen Moment überlegen, man wird ja schließlich nicht jünger, nicht wahr? Eine gute Frage übrigens; ich erinnere mich, sie auch schon gestellt bekommen zu haben.«
Dann wurden die Augen geschlossen, um die Konzentrationsfähigkeit scheinbar zu erhöhen, die aneinandergelegten Fingerkuppen pochten ganz sanft auf die Lippen. Und dann plötzlich ein weises Lächeln, wie ihn die Erinnerung just in diesem Moment wieder eingeholt hatte, die Augen wurden wieder geöffnet, der Körper leicht nach vorne gebeugt, die Hände gefaltet auf den Tisch gelegt – sofern einer vorhanden war. Alles sorgfältig zurecht gelegt und vor dem Spiegel bestimmt dutzendmal eingeübt.
»Ich erinnere mich an meine Mutter, eine begnadete Pianistin, welche aber zum Wohl der Familie auf eine musikalische Karriere verzichtet hat, um meinen Vater in seiner ärztlichen Praxis unterstützen zu können und um für mich da zu sein – ich bin ein Einzelkind, müssen Sie wissen.«
Tatsächlich war Victors Mutter Gertrud völlig unmusikalisch gewesen und hatte sich aufrichtig für ihre Strickarbeiten und den Berner Sennenhund interessiert, welchen sie anstelle ihres nie geborenen zweiten Kindes verhätschelte und verwöhnte. Musik war ihr ziemlich gleichgültig gewesen, und es ist nicht sicher, ob sie Bach von Brahms hätte unterscheiden können.
Gertrud Steinmann war eine etwas korpulente, mittelgroße Frau, die sich umtriebig und mit viel Energie um den Haushalt und die Erziehung ihres einzigen Sohnes gekümmert hatte und darüber hinaus erst noch Zeit fand, ihrem Ehemann Bruno in dessen Praxis zur Hand zu gehen.
Sie trug meistens dunkle und dicke Stoffe, und ihr blondes Haar war stets zu einem Dutt hochgesteckt. Stolz auf das dunkle, wellige Haar ihres Sohnes kümmerte sie sich emsig darum und kämmte es mit dem notwendigen Wachs streng nach hinten – eine Angewohnheit, die Victor bis ins hohe Alter übernommen hatte und seinem mittlerweile schlohweiß gewordenem Haar die gleiche sorgfältige Pflege zukommen ließ.
»Musik war in unserer Familie allgegenwärtig«, pflegte Victor fortzufahren. »Keine Tonträger, wie das heute leider der Fall ist, wie sich die Leute ja nur noch von Musik berieseln lassen, unfähig selber eine Tonleiter zu singen oder gar Dur von Moll unterscheiden zu können. Es gab damals noch keine akustische Umweltverschmutzung, allgegenwärtige Schlager oder wie man diesen Lärm heute nennt, welcher nicht einmal selber komponiert sondern nur noch neu aufbereitet wird.«
Er vermied es strikt, moderne Begriffe zu verwenden, obwohl ihm Bezeichnungen wie Hits oder Coverversionen natürlich bekannt waren; das passte aber nicht zum Vokabular eines Pultstars, der sich eigenmächtig zum Gralshüter der klassischen Musik ernannt hatte.
Die Aussage betreffend der musikalischen Allgegenwärtigkeit in der Familie Steinmann enthielt tatsächlich einen, wenn auch sehr geringen Wahrheitsgehalt. Vater Bruno, ein geschätzter allgemeinpraktizierender Mediziner mit einer eigenen Hausarztpraxis, war der Musik nicht abgeneigt, hörte sich gerne Konzerte im Radio an und besuchte vielleicht dreimal im Jahr eine Aufführung im Berner Casino oder eine Oper im Stadttheater. Bereits bei Richard Strauss endete allerdings sein musikalisches Verständnis und eine Symphonie von Gustav Mahler löste bei ihm lediglich Kopfschütteln aus.
Er war ein groß gewachsener, sehr ruhiger, bedächtig und besonnen wirkender Mann, von dem Victor die Körpergröße und seine aufrechte Haltung geerbt hatte, obschon er im Kindes- und Jugendalter durch seinen rasch voranschreitenden Körperwuchs eher schlaksig und beinahe etwas linkisch gewirkt hatte.
Bruno Steinmann war bei seinen Patienten wegen seiner geduldigen und andächtigen Art und Arbeitsweise sehr beliebt. Er nahm sich jeweils viel Zeit, um ihren Problemen zu lauschen, auch wenn das Wartezimmer brechend voll war – eine Eigenschaft, die er sich leider nicht für seinen Sohn reserviert hatte. Er kannte keinen Zeitdruck und mit den Hausbesuchen arbeitete er häufig bis in die späten Abendstunden, sodass der kleine Victor seinen Vater manchmal nur an den Wochenenden zu Gesicht bekam – vorausgesetzt natürlich, dass dieser keinen Bereitschaftsdienst hatte und nicht zu einem Notfall abberufen wurde.
Wenn die Mutter in der Praxis aushalf, nahm sie ihren Sohn und den Berner Sennenhund mit, und so krabbelte der Junge im Empfangsbereich herum und verirrte sich schon manchmal ins Wartezimmer, wo er interessiert die dort wartenden Patienten musterte und unter fürsorglichen Niedlichkeitsbekundungen junger Damen auf deren Schoss landete, wo Mutter Gertrud oder die jeweilige Sprechstundenhilfe ihn dann selig vor sich hin schlummernd vorfand.
»Mein Vater war, durch seinen anstrengenden und verantwortungsvollen Beruf, selten bei uns zu Hause. Am Abend musste er häufig, nachdem er seine Praxis geschlossen hatte, noch Hausbesuche bewältigen und so war ich häufig mit meiner Mutter alleine und konnte ihrem Klavierspiel lauschen. Sie war eine wunderbare Pianistin, spielte einen wundervollen Mozart, einen kraftvollen Beethoven und einen leidenschaftlichen Chopin. Da sind wohl meine ersten musikalischen Erinnerungen anzusiedeln, um wieder auf Ihre Frage zurück zu kommen: Meine Mutter, die am Flügel sitzt und sich mit geschlossenen Augen ihrem Klavierspiel hingibt – so habe ich das auf jeden Fall in meiner Erinnerung. Ich, der kleine Bub, lag daneben auf der Chaiselongue oder durfte sogar neben ihr auf dem Klavierstuhl Platz nehmen und die Noten mitverfolgen. Manchmal spielte sie mir ganz einfache Melodien vor, die ich dann nachzuspielen versuchte. So hat das Ganze wohl angefangen.«
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