Ich erinnere mich an unser erstes gemeinsames Konzert. Vater begleitete mich bei Mozarts Jeunehomme -Klavierkonzert. Ich war damals erst elf Jahre alt. Die gemeinsame Probenarbeit mit Vater und die anschließenden zwei Konzerte sind mir als eine Zeit von kompletter Glückseligkeit in Erinnerung geblieben. Kurz darauf waren meine Großeltern gestorben, was mich in eine düstere Phase voller Trauer und Niedergeschlagenheit stürzen sollte.
Vater nahm sich viel Zeit, um mit mir zu proben und ging mit mir die Passagen des Konzerts sorgfältig durch.
»Siehst du, Fabrice«, meinte er etwa, »hier nimmt das Orchester deine Idee auf und trägt sie weiter« oder: »Versuche, die Taktstriche zu vergessen, du klammerst dich an ihnen fest. Betrachte immer die Musik als Ganzes, ohne Unterteilungen, und lasse sie fließen.«
In Erinnerung geblieben ist mir aber folgende Aussage: »Vergiss nie die ursprüngliche Bedeutung eines Konzertes. Concerto steht eigentlich für einen Disput, einen Wettstreit, den der Solist mit dem Orchester führt und in dem er sich behaupten muss. Unfair ist das Ganze schon, da der Einzelne alleine gegen das ganze Orchester steht. Aber aus einem Streit entwickelt sich immer sehr schnell ein Dialog mit Meinungen hier und Einwänden dort, und man findet sich zu guter Letzt in einem Konsens. Das ist eben das Schöne in der Musik: Es gibt bei einem solchen Disput keine Sieger oder Verlierer, die Wellen werden geglättet, man findet sich, und alles endet in Harmonie.«
Wenn ich jetzt an seine Worte zurückdenke, kommen mir erneut die Tränen. Unser Streit endete nicht in Harmonie, und er hatte sich in der letzten Zeit so zugespitzt, dass es keine Möglichkeit mehr gegeben hatte, die Wellen zu glätten, und dass es keine Gewinner geben konnte.
Vater, ich habe dich bewundert und geliebt. Es hat mich beeindruckt, wie du deine klaren Klangvorstellungen dem Orchester vermitteln konntest, wie du mir den Aufbau eines Werkes erklärt hast, einfach, klar, verständlich. Du hast mich alles gelehrt, was ich über Musik weiß, hast mich ermahnt, auf Nuancen zu achten und den kleinsten Details die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Du hast mich, schon als ich noch ein kleiner Bub war, ans Klavier gesetzt. Ich erinnere mich an ein Foto, das ich in den Alben gefunden habe, wo ich auf deinem Schoss sitze, am Klavier, vielleicht drei Jahre alt und, mit weit offenem Mund in die Kamera lachend, die Tasten bearbeite. Unbeschwert, neugierig, glücklich.
Du hast mir gezeigt, wie man auf dem Klavier ganz einfache Melodien nachspielen kann, welche du mir vorgesungen hast. Das absolute Musikgehör habe ich von dir geerbt. Du hast mich früh Klavierunterricht nehmen lassen, bei ganz verschiedenen Lehrern.
Wenn du das Gefühl hattest, dass ich nicht mehr weiterkomme, hast du einen anderen Lehrer engagiert, der dir meistens von Paul Glauser, deinem Professor am Konservatorium, empfohlen worden war.
Ich erinnere mich speziell an einen davon, Alfred Haller. Warum wohl ausgerechnet an ihn? Er hat mich nicht lange unterrichtet, aber ich glaube, er war der Einzige, der wegen meines Namens und meiner Herkunft nicht vor Ehrfurcht erstarrte. Unbeeindruckt davon hat er mich mit einer unglaublichen Strenge unterwiesen, wie ich sie bisher nicht gekannt hatte. Kein Detail wurde ausgelassen, am Anschlag musste ich gnadenlos arbeiten, meine Fingerfertigkeit wurde bis zur Erschöpfung gedrillt.
Ich hatte damals eine solche Unnachgiebigkeit bisher nicht gekannt, heute weiß ich, dass du, Vater, sie bei weitem übertriffst. Aber das sollte ich erst später feststellen und realisieren, aber nicht unbedingt verstehen.
Ich bin nicht lange bei Alfred Haller geblieben, vielleicht weil du es nicht ertragen konntest, dass dir jemand so unverfroren mit Hilfe deines Sohnes einen Spiegel vorgehalten hat oder vielleicht auch, weil er mich zwar rasch weitergebracht hat, aber dann nichts mehr mit mir anzufangen wusste. Oder vielleicht wolltest du deinem Sohn einfach keine so strenge Unterweisung zumuten, obschon gerade du ja eigentlich der Meister der Schinderei warst.
Ich erinnere mich, dass du zwischen deinen Konzerten im Ausland immer wieder nach Hause kamst, mich bei den Großeltern in Köniz abholtest und mich nach Hause an den Murtensee nahmst. Ich genoss die Zeit mit dir zusammen, im Sommer tagelang auf deinem Schiff, schwimmen, spielen, herumtollen, mit viel Freude, Elan und Kindlichkeit. Du nahmst mich in die Arme, lachtest mit mir, tröstetest mich und spendetest mir viel Freude. Und doch war die Musik immer da, allgegenwärtig, uns Zwei verbindend.
Da wusste ich noch nicht, dass gerade die Musik einmal zwischen uns stehen und uns unerbittlich trennen würde. Ich habe dich enttäuscht, wurde deinen Erwartungen nicht gerecht und schaffte es nicht, den Namen Steinmann so in die Welt heraus zu tragen, wie du das getan hast.
Als ich mit Ende zwanzig den Entschluss fasste, zusätzlich zu meinem Solistendiplom mich zum Dirigenten ausbilden zu lassen, war der Kontakt zu meinem Vater bereits auf ein Minimum reduziert. Unsere letzten gemeinsamen Auftritte lagen eine Ewigkeit zurück und ich reiste durch die ganze Welt, um Konzerte zu geben, Recitals, Auftritte in Kammermusikformationen. Aber ohne Vater. Man kann durchaus sagen, dass ich ein gewisses Renommee erreicht hatte, und ich wage einmal zu behaupten, dass die zahlreichen Einladungen und Anfragen, die ich erhielt, nicht in erster Linie mit meinem Namen zu tun hatten, sondern dass meine Fähigkeiten als Pianist wohlwollend angesehen und geschätzt wurden.
Meine Agentin, Annette Peters, die mir noch von Vaters Manager empfohlen worden war, musste viele Absagen erteilen, weil ich großen Wert darauf legte, nicht möglichst viele Konzerte zu geben und mich damit rasch abzunützen, sondern bei meinen Auftritten hohe künstlerische Qualität zu erreichen, um damit nachhaltig bei meinem Publikum in Erinnerung zu bleiben, wozu aber zwangsläufig genug Vorbereitung und entsprechende Erholungsphasen notwendig sind.
Früher hatte ich mit Vater vier bis fünf Konzerte pro Saison gespielt, doch plötzlich waren keine Anfragen mehr eingetroffen, der Umgang bei unseren letzten Auftritten war eher kühl gewesen und das Lob, das ich früher von Vater in großen Mengen eingeheimst hatte, war sehr spärlich geworden.
Ich rief ihn von Zeit zu Zeit an und erzählte ihm von meinen Auftritten und Erlebnissen, merkte aber immer mehr, dass er das Interesse an meiner Karriere komplett verloren hatte. Er befand sich damals in einer schwierigen Zeit und hatte genug eigene Probleme, als dass ihn diejenigen seines Sohnes groß interessiert hätten.
Ich wollte nun endlich das Gefühl kennenlernen, wie es sich anfühlt, vor einem Orchester zu stehen, mich mit Partituren auseinanderzusetzen, Klangfarben zu modellieren und die Vorstellungen auf eine Musikerschar zu übertragen. Die Stereoanlage hatte ich ja häufig genug dirigiert, und ich fühlte mich nun reif und erfahren genug, um mich auf eine neue Erfahrung einzulassen und meiner Karriere eine andere Richtung zu verpassen.
Wahrscheinlich spielte noch eine andere Überlegung eine wichtige Rolle, die zu diesem Zeitpunkt wohl aber eher nur in meinem Unterbewusstsein existiert hatte: Ich suchte nach einem anderen Weg, um Vaters Aufmerksamkeit zurück zu gewinnen. Meine Fähigkeiten als Pianist schienen seinen hohen musikalischen Anforderungen bei weitem nicht mehr zu genügen, und ich dachte mir wohl, dass ich als Dirigent mich eher ihm wieder annähern und seine Zustimmung erhalten konnte.
Welch ein Irrtum! Hätte ich mich sorgfältig und gründlicher mit unserer schwierigen Beziehung auseinandergesetzt, so wäre mir wohl rasch klar geworden, dass mein Plan schon im Voraus komplett zum Scheitern verurteilt gewesen war.
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